Es war kalt in diesem Winter in Rom. Außergewöhnlich kalt. Der Offizier der italienischen Luftstreitkräfte, der nach den Fernsehnachrichten auftritt, verspricht nun für die kommenden Tage: es bleibt kühl und trocken. Nicht nur das Wetter, sondern auch die Vorhersage. Ich glaube den Prognosen. Draußen scheint inzwischen die Sonne, in der Nacht jedoch sind noch vor kurzem Roms Obdachlose erforen. Die Treppe runter, ein Druck auf den elektrischen Türöffner, und ich befinde mich auf einer Seitenstraße des Viertels Pigneto, eher ein Dorf als ein Stadtviertel. Es liegt versteckt zwischen großen Ausfallstraßen, Straßenbahndepots und den stelzenartigen Pfeilern einer Stadtautobahn, deren Kurven und Kreisel die gelb und braun getüncht
chten Hausfassaden in mehrere Flächen zerschneiden. Molto popolare sei es hier, sagen mir Bekannte immer wieder mit einem gewissen Stolz, eine der wenigen Gegenden Roms, die sich eine gewisse Volkstümlichkeit erhalten habe. Dabei kann der italienische Begriff ins Deutsche eigentlich kaum mit volkstümlich übertragen werden. Auch populär trifft das Gemeinte nicht. Vielleicht sozial? Sozialwohnungen heißen hier jedenfalls case popolari.Immer wieder treffe ich auch Römer und Römerinnen, die den Pigneto überhaupt nicht kennen. Für die anderen ist es ein berümtes Viertel, verewigt durch Pier Paolo Pasolinis ersten Film Accattone. Die Alten in der Bar, die unten im Nachbarhaus liegt, erinnern sich an die Dreharbeiten, als hätten sie erst gestern stattgefunden. Die Alten in der Bar. Das waren damals, Anfang der 60er Jahre, die Jungen in der Bar. Sie waren die Protagonisten des Films. Pasolini, der leidenschaftliche Intellektuelle aus dem friulanischen Casarsa, hatte das männliche, jugendliche Subproletariat der Vorstädte Roms nicht nur zu Akteuren seiner Romane und Filme gemacht, er hat ihnen ein Denkmal gesetzt. Die 7-8stöckigen Wohnblocks, die das Bild der heutigen Vororte dominieren und die auch die Dorfstruktur des Pigneto fast schützend umgeben, tauchen in Accattone noch als riesig wirkende Baustellen am Horizont der Nachkriegsbarackensiedlungen auf. Dazwischen nichts als unter der sengenden Sonne liegendes Ödland und staubige Straßen ohne Autoverkehr.Da ist nicht nur eine Welt, nur eine Erde, nur eine SonneAn der Via Prenestina warte ich auf die Tram. Deren Wagen, die sich nahezu in Schrittgeschwindigkeit unter der Stadtautobahn in Richtung Porta Maggiore bewegen, scheinen noch aus der Zeit der Romfilme Pasolinis zu stammen. Nur die Autos fehlen heute nicht. Wie fast jeden Tag, ist mal wieder ganz Rom auf den Beinen, nicht nur zu Fuß und in öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern auf dem motorino, auf der Vespa, auf ihrem modernen Pendant, dem Scarabeo, und - auf allen Vieren - im Auto. Es ist 10 Uhr vomittags, der Wind spielt mit dem Wasserstrahl einer Fontanelle. Er lässt auch mir keine Ruhe, bis ich in die vollbesetzte Straßenbahn einsteige. Je nach Tageszeit, Stadtviertel und Fahrtrichtung ändert sich die soziale Zusammensetzung der Passagiere. Heute morgen sind es vor allem Studenten und Studentinnen, unterwegs zur größten Universität Europas. Doch schon an der Porta Maggiore, dem frisch restaurierten Stadttor aus aurelianischer Zeit, müssen Studierende umsteigen. In Richtung Bahnhof Termini kommen zu dem übriggebliebenen Publikum mittleren Alters junge asiatische Immigranten hinzu. Das Ziel vieler ist der Esquilin, einer der sieben klassischen Hügel. 1863 entstand hier der heutige Hauptbahnhof, und wie in vielen anderen europäischen Städten hat sich in dieser Gegend eine Art multikultureller Stadtteil entwickelt.Ich steige schon an der Piazza Vittorio Emanuele aus. Hier findet jeden Morgen der betriebsamste Markt Roms statt. Er zieht sich an der Hauptstraße entlang, umschließt dann auf kleineren Straßen einen Park. Seine Ausläufer reichen bis unter die Arkaden und in die Nebenstraßen des Platzes. Zu kaufen gibt es hier fast alles: Obst und Gemüse, asiatische Gewürze, Haushaltswaren, billige Schuhe und Oberbekleidung, Fleisch, Käse, Reis und - für den Geruchssinn - Blumen und Fisch. Selbstgebrannte CDs, Kopien von Markenartikeln und Mobiltelefone unbekannter Herkunft erweitern den Markt zum Schwarzmarkt. Vor mir steht ein etwa 50jähriger Mann mit Wollmütze und offener Jacke. Er lehnt an einem Lieferwagen, diese Stelle hat er sich augenscheinlich nach dem Stand der Sonne ausgesucht. Im Schatten schräg hinter ihm wärmen sich kleine Gruppen von Arbeitern an dem Feuer brennender Obstkisten und rufen sich Freundlichkeiten zu.Sondern viele sind der WeltenEine Dichterin aus Salzburg sah "auf dem Campo de' Fiori, daß Giordano Bruno noch immer verbrannt wird. Jeden Sonnabend, wenn um ihn herum die Buden abgerissen werden und nur mehr die Blumenfrauen zurückbleiben, wenn der Gestank von Fisch, Chlor und verfaultem Obst auf dem Platz verebbt, tragen die Männer den Abfall, der geblieben ist, nachdem alles verfeilscht wurde, vor seinen Augen zusammen und zünden den Haufen an. Wieder steigt Rauch auf, und die Flammen drehen sich in der Luft. Eine Frau schreit, und die anderen schreien mit. Weil die Flammen farblos sind in dem starken Licht, sieht man nicht, wie weit sie reichen und wonach sie schlagen. Aber der Mann auf dem Sockel weiß es und widerruft dennoch nicht." (Ingeborg Bachmann: Was ich in Rom sah und hörte)Der Campo de' Fiori, in den letzten Monaten eine der vielen umzäunten Baustellen in Vorbereitung auf das Heilige Jahr, ist jüngst wieder für den Publikumsverkehr geöffnet worden. Zu Fuß müsste ich es in einer knappen Stunde dorthin schaffen, und ich könnte sehen, ob der neapolitanische Philosoph 400 Jahre nach seinem Tod noch immer verbrannt wird. Auf dem Weg durch die mittags ruhigen und zur gleichen Zeit belebten, auf- und absteigenden Gassen des Bezirks Monti steigt in mir ein Bild aus den 50er Jahren auf. Der Krieg war vorbei, die Deutschen und der Faschismus besiegt, die Bauspekulation hatte noch kaum begonnen. Die neuartigen Bilder des Neorealismus hatten in der Darstellung ungeschminkter Realität auch einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft eröffnet. Heute bildet die Schwarzweiß-Ästhetik der gestrigen Hoffnung auf eine bessere Zukunft die romantische Fototapete auf den Wänden des modernisierten Hauptbahnhofs. Rom - Read Only Memory?"Futuro No Problem", schallt es mir da wie als Antwort vom Zeitungsladen entgegen - genauer gesagt von der aktuellen Gratisbeilage einer bedeutenden überregionalen Tageszeitung, welche ihren LeserInnen per Heft und CD-Rom (!) einen über Wochen laufenden Englisch- und Computerkurs anbietet. Der glücksversprechende Titel ruft in mir sogleich Regel 16 der kritischen Textanalyse auf: "Bilde das Gegenteil der Aussage!" Diese Methode ist bisweilen sehr zuverlässig, zu überprüfen beispielsweise an einer Wortzusammenstellung wie Brave New World. "Futuro Yes Problem" klingt zugegebenermaßen etwas holprig, vielleicht wurde deshalb der andere Titel gewählt. Zwischen memory und futuro aber öffnet sich die Kluft der Gegenwart.Soviele Welten, wie wir um uns herum leuchtende Sterne sehenAuf den letzten Metern vor dem Campo de' Fiori drängeln sich immer mehr Menschen. Dann, einmal auf den Platz getreten - nahezu vollkommene Stille. Kein verfaultes Obst, keine schreienden Marktfrauen, keine lodernden Abfallhaufen. Stattdessen Stille, ein leerer Platz, das Kopfsteinpflaster erneuert, an den Seiten ebenso neue Straßenlaternen - solche, wie ich sie auch auf dem Pariser Montmartre erwarten würde. Vor einem Kiosk schneidet eine gebückte Gestalt in weißem Kittel Pakete auf, im Hintergrund verteilt sich eine Gruppe junger Frauen mit Zeichenblöcken.Das Standbild Giordano Brunos erhebt sich seit 1889 auf seinem Sockel, den Blick gegen den Vatikan gerichtet. Von vorne gesehen, gegen blaue Luft und gelbe Häuser, ist es düster. Am Fuße des Sockels hingegen befinden sich eigentlich helle, freundliche, zum Verweilen einladende, breite und flache Stufen. Sie sind vor kurzem mit einer absurden Anzahl von monumentalen Topfpflanzen bestückt worden. Giordano Bruno wird also nicht mehr verbrannt. Zu Beginn des Heiligen Jahres wirkt er eher isoliert, so als müsse er noch einmal die Festungshaft in der Engelsburg absitzen. Hoffentlich werden es diesmal keine sieben Jahre. Um den Anfang zu machen, nehme ich die Einladung der Stufen an und rücke einen Topf zur Seite.Zwischenüberschriften aus Giordano Bruno "De l'infinito"
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