Michelle Bachelet (links) und Evelyn Matthei. Ihre Kandidaturen wirken wie eine Parabel für eine geteilte Geschichte
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Erst drei Wochen vor diesem Votum hat die Sozialistin Michelle Bachelet ihr Programm vorgestellt. Viel zu spät, monieren ihre konservativen Gegner. Fast entschuldigend entgegnet Bachelet: „Wir haben kein Programm unter Freunden oder in den eigenen vier Wänden gemacht, sondern eines der breiten Teilhabe. Das dauert eben länger.“
Neun Kandidaten bewerben sich am 17. November um das höchste Amt in Chile. Die beiden aussichtsreichsten sind zwei Frauen: Michelle Bachelet vertritt die Nueva Mayoría, eine Mitte-Links-Allianz, deren Kern – Sozialisten, Christdemokraten, Radikale Sozialdemokraten und die Partei für Demokratie – das Land nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 in die Demokratie geführt hat. Inzwischen stießen auch die K
Pinochet-Diktatur 1990 in die Demokratie geführt hat. Inzwischen stießen auch die KP und die Bürgerliche Linke dazu. Als es innerhalb des Bündnisses eine Vorwahl gab, gewann Bachelet im Juni mit 73 Prozent. Auch ihre wichtigste Gegenspielerin – die rechte Alianza por Chile – bietet eine Frau für die Präsidentschaft auf: Evelyn Matthei, Ökonomin, Ex-Senatorin und bis zu ihrer Kandidatur Arbeitsministerin in der Regierung des scheidenden Staatschefs Sebastián Pinera.Zwei Chileninnen in der DDRDie sich überkreuzenden Lebenslinien beider Frauen führen seit Wochen zu Schlagzeilen wie Duell der Generalstöchter oder Folter-Opfer gegen Pinochet-Anhängerin. Beide Bewerberinnen verkörpern wie nur wenige die jüngste Geschichte des Andenstaates. In der Kindheit und Jugend nebeneinander aufgewachsen – die Väter (s. Glossar) waren Militärs, Kollegen, fast Freunde –, wurde Michelle nach dem Militärputsch von 1973 zusammen mit ihrer Mutter verhaftet und ins Folterzentrum Grimaldi in Santiago verbracht.Beide kamen mit Glück frei, gingen in die DDR, wo Michelle Medizin studierte, bis sie Ende der siebziger Jahre nach Chile zurückging und später der Sozialistischen Partei beitrat. Die andere, Evelyn, studierte an der Katholischen Universität von Santiago Ökonomie, arbeitete in der Wirtschaft und schloss sich 1989 der Partei der Nationalen Wiedererneuerung an, ging aber bald wieder eigene Wege, bis sie schließlich Mitglied der Unabhängigen Demokratischen Union wurde.In Chile kennen viele diese Biografien, im Wahlkampf aber blieben sie im Hintergrund. „Die Frauen sind, was ihr Privatleben betrifft, sehr zurückhaltend. Was zählt, ist ihr Programm“, meint Aida Figuero, Direktorin der Neruda-Stiftung.Bachelet im VorteilDas Duell der beiden ist ein ziemlich unausgewogenes. Als klare Favoritin aller Meinungsforscher behauptet sich Michelle Bachelet, der im ersten Wahlgang bis zu 47 Prozent prophezeit werden. Die Werte für Evelyn Matthei liegen bei 14 bis 15 Prozent, die anderen Kandidaten fallen kaum ins Gewicht. Im Moment sieht es also so aus, als könnte die sozialistische Politikerin nach der ersten Runde erneut in den Präsidentenpalast La Moneda einziehen – sie führte das Land bereits 2006 bis 2010 –, doch werde „das Spiel erst in der letzten Minute gewonnen“, bemerkt sie vorsichtig.Als Bachelet 2010 aus dem Amt schied – eine unmittelbare Wiederwahl des Staatschefs ist laut Verfassung untersagt –, lag ihre Beliebtheit bei 80 Prozent. Dass sie zuletzt als Geschäftsführende Direktorin der UN-Frauenliga außerhalb Chiles arbeitete, konnte ihren Sympathiewerten nichts anhaben. „Ihr Erfolgsbonus, das ist ihre Persönlichkeit“, urteilt Aida Figuero, „sie ist sympathisch, offen und spontan und wirkt kaum wie eine Berufspolitikerin.“Im Jahr 2000 war Bachelet in der Regierung des Sozialisten Ricardo Lagos Ministerin für Gesundheit, doch begann ihre politische Karriere tatsächlich erst, als sie nach einer Spezialisierung auf Militärfragen 2002 Ministerin für Verteidigung wurde – die erste Frau in direkter Verantwortung für die Armee. Auf diesem Posten gewann sie das Vertrauen einer Mehrheit der Chilenen. Auch weil man wusste, dass ihr Vater, General Alberto Bachelet, der Pinochet-Diktatur zum Opfer gefallen war. Als Verteidigungsministerin standen Bachelet Generäle gegenüber, die den Staatsstreich von 1973 mitgetragen hatten. Sie verweigerte sich jedem Bedürfnis nach Rache wie dem Wunsch nach übereilter Versöhnung. „Ich spreche stattdessen lieber von reencuentro“, sagte sie damals und meinte die „Wiederbegegnung“ von Chilenen aus unterschiedlichen Lagern.Keine Unidad PopularHeute erklärt sie, Versöhnung setze Wahrheit und Gerechtigkeit voraus. Auch ein Hinweis darauf, dass zwischenzeitlich einige der Schuldigen vor Gericht stehen und Chiles Richtervereinigung einräumen musste, während der Diktatur Opfer staatlicher Gewalt nicht geschützt zu haben, wie es die Pflicht der Justiz gewesen wäre.Chile hat sich verändert, besonders seit 2011, als soziale Unruhen das Land zu erschüttern begannen. Das Parlament war dem nicht gewachsen und unfähig, legitime Forderungen aufzugreifen. Daraus ergab sich wachsende Unzufriedenheit mit der politischen Klasse. Eine couragierte Studentenbewegung hat sich als Anwalt eines renovierten Bildungssystems profiliert. Die Mapuche verlangen als Ureinwohner, dass man ihnen endlich lange versprochene Rechte einräumt. Es geht um Arbeitsplätze und eine andere Verteilung des durchaus vorhandenen Wohlstands.Das nehmen beide Lager zur Kenntnis. Sie schlagen nur unterschiedliche Wege zur Lösung ein. Evelyn Matthei setzt auf Liberalismus, Unternehmer und Privatinitiative – die Linksallianz auf einen Staat, der seine soziale Mission erkennt. Nueva Mayoría berief 620 Experten für 33 Kommissionen, die in Städten und Dörfern Prioritäten des Wandels zu erfassen hatten. Daraus wurden im Wahlprogramm: eine Bildungsreform, die allen den kostenfreien Zugang zu jeder Form von Bildung gewährt, vom Kindergarten bis zur Universität, denn Bildung „ist kein Konsumgut, sondern soziales Recht“, so Bachelet; eine Steuerreform, die auf erhöhte Kapitalertragssteuern zielt, und eine Verfassungsreform, um die noch aus der Pinochet-Zeit stammende Magna Charta zu erneuern.Erinnert das Bündnis Nueva Mayoría an die Unidad Popular aus Sozialisten und Kommunisten sowie an das Jahr 1970, als Salvador Allende Präsident wurde? „Das hat nichts damit zu tun“, glaubt Aida Figuero. „Man hat es nicht allein mit einer Parteien-Koalition zu tun. Es gehören soziale Bewegungen dazu, die in Chile nicht zu unterschätzen sind. Das heutige Bündnis ist breiter, als es die UP einst war. Immerhin sind die Christdemokraten dabei. Alle Partner sind bemüht, den Ruf der Bevölkerung – um es einmal so zu nennen – aufzunehmen.“ Auf den Vorwurf von Evelyn Mattheis Anhängern, das Programm der Neuen Mehrheit sei zu links, antwortet Michelle Bachelet: „Hier gibt es keinen Schwenk nach links, sondern einen Schwenk zu den Bürgern“.
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