Die Plastiktüten der Frau Luckerniddle

Bühne Nicolas Stemann verwandelt am Berliner Deutschen Theater Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe" in eine bunte Revue, in der man über Sozialhilfeempfänger lachen darf

Was erwarten wir vom Theater? In Zeiten des Turbokapitalismus und allgemeiner Verunsicherung soll es zuerst einmal unterhalten. Dass es darüber hinaus eine adäquate Plattform der Analyse, Kritik und Solidarisierung sein kann, also Unterhaltung und Reflexion auf hohem Niveau bietet, hat unlängst Falk Richter mit Trust in der Berliner Schaubühne gezeigt. Dass man Land auf Land ab auf altbewährtes zurückgreift, ist legitim und erfolgreich wie in Tilmann Köhlers wuchtiger Aufführung Die Heilige Johanna der Schlachthöfe am Dresdner Schauspielhaus im Oktober.

Nun hat sich das Deutsche Theater Berlin an dem Brecht-Stück versucht. Man engagierte den Regisseur Nicolas Stemann, Jahrgang 1968. In Hamburg groß geworden, ist er mit Inszenierungen von Elfriede Jelinek am Wiener Akademietheater und Hamburg (Ulrike Maria Stuart) in die Theater-Oberliga aufgestiegen.

Bereits mit seiner Hamburger RAF-Trash-Nummern-Revue zeigte sich Stemann als Spezialist für sorgenfrei-blöde Entpolitisierung des Stoffs. Den einen ein Ärgernis, den anderen ein Vergnügen, waren die Abende stets gut besucht. Warum sollte man ihm also in Berlin nicht Die heilige Johanna der Schlachthöfe anvertrauen, mochte sein einstiger Chef in Hamburg und jetziger Hausherr am Deutschen Theater, Ulrich Khuon, gedacht haben. Doch das Kalkül ging nicht auf, auch wenn alle Register gezogen wurden.

Stemann verteilt in den Bühnenlogen eine fesche Combo für Musik und Atmo-Geräusche. Eine Videoanlage mit Stadtkulissenmodell, das dauernd vorführt, wie es gemacht wird, sorgt für bewegte Bilder. Eine Drehbühne dreht sich nach einer Stunde immer noch. Requisiten fallen aus dem Schürboden. Ein Chor kommt plötzlich hinter der Videoleinwand hervor und müht sich fortan ab zu singen. Fünf Schauspieler spielen an der Rampe, um dem Publikum klar zu machen, dass sie nur so tun als ob. Stemann führt uns die neueren Theatermittel vor wie ein kleiner Junge, der sein Spielzeug zerlegt hat. Dass der Karren dann nicht mehr fährt, das Theater nicht mehr funktioniert, bedenkt er nicht. Er hält sich bieder an die eingestrichene und auf fünf Darsteller verteilte Textvorlage Brechts.

Zwar fragen wir uns, warum Katharina Schubert als Johanna den ganzen Abend in einem Paillettenkleid herumläuft – nur eine der vielen Fragen, die der Abend offen lässt –, versuchen aber ihrem Passionsweg von der Heilsarmistin zwischen den Fronten zur Aktivistin des Kommunismus zu folgen. Doch wie die Bühne und das Spiel nur aus Versatzstücken besteht, lässt Stemann auch auf Brechts Stoff nur in Stücken blicken. Er kann keinem der großen Themen Brechts etwas abgewinnen – weder der Solidarität, noch dem Kampf, geschweige denn einer Sozialutopie – nicht einmal zu einer genauen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse ist er bereit.

Warum wird die verdiente Margit Bendokat als Frau Luckerniddle in Haltung und Kostüm als verwahrloste Tüten-Paula vorgeführt? Ist der Sozialhilfeempfänger, die Obdachlose, das Lumpenproletariat Agens gesellschaftlicher Veränderung, wie insinuiert? Nein, ohne Verwandlung, Überzeichnung oder Brechung der Figur wird hier auf einen zynischen Unterhaltungsfaktor gesetzt. Die Luckerniddle besetzt als einzige Figur die Bedeutungsebene der Realität, oder anders gesagt: sie wird vor dem bürgerlichen Publikum denunziert.

Dass ihr auch noch Brechts Parole von der Gewalt gegen die Unterdrückung in den Mund gelegt wird, verrät schließlich nicht nur die Schicht, die sie repräsentiert, sondern auch den Autor und sein Haus – das Deutsche Theater.

am 29. Dezember, 3. Januar, 19.30 Nächste Vorführungen

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