Zum Reisen gehört, das haben Tourismusforscher in den siebziger Jahren festgestellt, die Suspension des alltäglichen Egos, man reagiert dann anders als sonst auf habituelle Herausforderungen. Wie dabei mitunter der Verstand ausgeschaltet wird, berichten periodisch die privaten Krawallsender von Besuchen in den Bordellen Thailands, den Suffhochburgen Spaniens oder vom Oktoberfest. Seit die Themenkomplexe „Spaß“ und „Erlebnis“ die Dostojewski’sche Sommerfrische an den Rand gedrängt haben, ist es nicht mehr weit her mit der Figur des Stadttouristen als jungem Adeligen – auch wenn es Quellen gibt, die aus der Vergangenheit nicht nur gutes Benehmen überliefern. Jedenfalls existieren die Stereotypen nebeneinander – jene, die an d
n den Strand und in die Berge fahren, und solche, die in die Stadt wollen. Sehr viele von diesen Touristen kommen nach Berlin. Nun hat der Kulturjournalist Peter Laudenbach über sie einen schmalen Essay verfasst: Die elfte Plage.Wenn Reisegruppen und Erlebnisgäste in Berlin aufschlagen, zerfällt, so Laudenbach, grob gerechnet die Bevölkerung der Stadt in zwei Teile: Die Touristenhasser und diejenigen, die von den Touristen leben. Der marginal mit Erwerbsarbeit beschäftigte Rest spielt hier keine Rolle. Sondern: Reisende. Zu jedem Tag des Jahres sind es in Berlin im Schnitt 500.000, in der Tendenz stark steigend, eindeutig sichtbarer an sonnigen Tagen.Zweckentfremdete WohnungLaudenbach geht phänomenologisch vor, ihn interessiert, was passiert, wenn „die Stadt zur Kulisse der Erlebnisindustrie“ wird. Vor allem: Wie das aussieht, und es sieht nicht gut aus. Touristen besichtigen, fotografieren, belagern: oft trampelig, oft besoffen, nur manchmal unscheinbar. Laudenbachs Touristen führen sich so auf, als wäre mit dem alltäglichen Ego auch gleich ein Großteil der zivilen Umgangsformen zu Hause gelassen worden. Also zerschmeißen sie Flaschen auf Friedrichshainer Straßen, pinkeln in Kreuzberger Hauseingänge, grölen herum oder platzen anderswie in die Privatsphäre der Stadtbewohner.Natürlich kennt Laudenbach auch die Wirtschaftsdaten, die Zahl der zweckentfremdeten Wohnungen und das Marketinggesabbel rund um den Tourismussektor. Also spricht er mit so einem Marketingsabbler und bekommt postwendend erklärt, dass die schlechte Laune in der Stadt, die Slogans gegen Touristen und gelegentlichen Übergriffe längst in Berlinwerbung und so in die Marktfunktion eingebunden sind. Dieses Gespräch war offenkundig so ertragreich, dass wir die zentralen Motive daraus gleich mehrfach lesen.Und natürlich hat Laudenbach recht, wenn er bemängelt, dass sich Berlin dem Tourismus zu Füßen schmeißt und die Erinnerungskultur nahtlos ins Konsumverhalten eingepasst ist. Es gibt ein paar hübsche Bemerkungen zum Hipster und seiner speziellen Spaßkultur. Vielleicht, weil es so viel Freude macht, bleibt Laudenbach aber zu oft bei der Phänomenologie und wird nicht müde, den Berlinreisenden als aufgemöbelten Provinzhirschen zu beschreiben, als präfigurierten Dämlack, der sich nun aber mal richtig daneben benehmen kann.Das ist etwas billig. In Zeiten steigender Mietpreise, mieser Stadtplanung und aufgehobenem Milieuschutz bieten Touristen eine einfache Angriffsfläche, zumal wenn sie so im Kollektivsingular inszeniert werden. Die Stadt jenseits der Klischeetouristen und die um sie gruppierte Industrie befragt Laudenbach nicht besonders intensiv: Seine Beobachtungen und Interviewfragmente enden damit, dass er über die freie Theaterszene als Standort- oder das Feiern als Wirtschaftsfaktor die Nase rümpft. Dass die Berliner Bezirke Mitte, Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg mit „Showrooms“ in allen Spielarten vollgepetert sind und also alle möglichen Käufer anlocken, ist bekannt und beklagenswert. Wenn Laudenbach aber mit seiner Analyse fast ausschließlich diese Bezirke durchstreift, muss er sich nicht wundern, wenn er den touristischen Blick dupliziert.So liest sich Die elfte Plage irgendwo zwischen lustig und Lustigkeit: Der Rhythmus der Pointen ist fluffig, belässt das Konstrukt aber oft bei Erwartbarem – es braucht nicht viel, um dem Canetti-Zitat anzusehen, dass es eingestreut ist, weil nun mal „die Masse liebt Dichte“ direkt zum Thema Alkohol führt. Aber die Polemik hat mit den Mühen der Ebene zu kämpfen, sie will sich nicht recht entwickeln. Interessanter wird es, wenn Laudenbach mit einem Bezirksbürgermeister über rechtliche Möglichkeiten der Einhegung jener Kieze spricht, die von der Umwandlung in öde Servicelandschaften bedroht sind, oder wenn er über den „touristischen Blick“ nachdenkt. Aber diese Abschnitte sind kurz, und schnell stößt einem wieder auf, dass ihm zu jedem „Berliner Künstler“ automatisch das Beiwort „verkracht“ einfällt. Richtig Neues findet sich nicht, oder vielleicht das: Die meisten Bewohner der Stadt sind Punks, Hipster oder Schluffis.Alternative IdeenLaudenbach ist so das Kunststück gelungen, ein Buch zu schreiben, das gleichermaßen zu kurz wie zu lang ist: Die Wiederholungen von folklorischen Oberflächen ziehen sich, es fehlen weitergehende Gedanken, Einblicke in Strukturen. Denn es findet sich wenig über die in Berlin hochgeschätzte soziale und kulturelle Abgrenzung, über die reduzierte, oberflächliche Kulturpolitik. Gerade hier könnte Laudenbach genauer werden. Auch schreibt er wenig dazu, dass die vor längerem Eingewanderten vielleicht auch ihr Ego suspendierten und es dann mittels all jener Improvisationsmöglichkeiten, die ihnen die Stadt mit ihren Brüchen und Freiräumen bot, temporär umformulierten. Vielleicht stecken blieben.Manchmal geschah das aus freiem Willen, manche zogen auch nach Brühl, Pforzheim oder New York zurück. Manchmal ist aber auch gleich ein ganzer Staat weggebrochen, und nach der DDR kam eben doch nicht nur das Wohlbehagen. Dazwischen sind soziale Kühle, kurzsichtige Politik und ihre enervierende Großmäuligkeit schwer zu ertragen. Die Fragilität der Selbstinszenierung zeigt sich jedenfalls im aufgebrachten Ton, der neuen Reisenden oder tatsächlichen oder angeblichen Schwaben begegnet. Darin aber könnte sich in Berlin etwas finden, was andere Großstädte mit linearer Entwicklung nicht haben: die vage Erinnerung an alternative Ideen. Und dann wäre „Arbeit am rauen Berlin-Image“ eben nicht nur „Dienst am Wirtschaftswachstum“.
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