Helga M. Novak im Frühjahr 1981 in Berlin. Da war sie bereits 15 Jahre lang nicht mehr Bürgerin der DDR.
Foto: Isolde Ohlbaum/Laif
Im Schwanenhals – das heißt, in der Falle. Denn der Schwanenhals ist ein Fangeisen für Raubtiere. „Daraus zu fliehen ist übrigens nicht möglich. Es ist ein Tötungswerkzeug.“ Aber der Reihe nach. Als Helga M. Novak 1979 und 1982 die ersten beiden Bände ihrer Autobiografie veröffentlichte, wurde der – Zitat Wolf Biermann – „größten lebenden Dichterin in Deutschland“ endlich die Aufmerksamkeit zuteil, die sie für ihre Lyrik und Kurzprosa bis zu diesem Zeitpunkt nicht erhalten hatte. Denn bis dahin war sie „schlimmer als nur verkannt und schlimmer als nur vergessen. Sie blieb einfach unbemerkt.“
So ganz stimmt das natürlich nicht. Immerhin hatte Novak bereits 1968 den Literaturpreis der
preis der Freien Hansestadt Bremen erhalten, allerdings nicht ohne ihre Abneigung gegen die kulturindustriellen Rituale zu bekunden, indem sie die Preisverleihung ohne Dankesrede verließ. Doch an ihrer Autobiografie kam die literarische Öffentlichkeit nicht mehr vorbei.Novak, geboren 1935, erzählte im ersten Band Die Eisheiligen von ihrer Kindheit in Nazideutschland und der DDR der Aufbaujahre, von ihrer Flucht aus der Gewalt des Adoptivelternhauses in die Arme von Vater Staat und Mutter Partei. Hier, auf einer staatlichen Landesoberschule, begann der zweite Band, Vogel federlos, in dem aus der „Hundertfünfzigprozentigen“ eine Zweifelnde wird. Das war ein bemerkenswerter Lebenslauf; noch bemerkenswerter war aber die Erzählweise: Beide Bände waren „totale Autobiografie“, eine kaum kommentierte Montage von Szenen, Gesprächen, Gedanken, Berichten, Gedichten und Zitaten.Bolzenschuss StasiMan erschaudert beim Lesen: Wie sie in ihrer Erinnerung wühlt und die Widerhaken immer fester zieht, kompromisslos, unnachgiebig, verletzend, keine Einheit, keine Vollendung versucht, schon gar keine Selbsterhöhung. Jammerschade, dass Vogel federlos im Jahr 1954 endet, noch vor Novaks 20. Geburtstag also. Sie habe keine Lust weiterzumachen, erklärte sie damals. Dabei blieb es offensichtlich zunächst einmal. Ende der neunziger Jahre ging das Gerücht, dass es eine Fortsetzung geben werde. 15 Jahre später ist es so weit: Unter dem Titel Im Schwanenhals ist nun der dritte Teil ihrer Autobiografie erschienen, der im Juli 1954 in Leipzig einsetzt, wo sich die Kaderschulabsolventin zum Journalistikstudium vorstellt.Damit werden zwölf berstend volle Jahre eingeleitet. Novaks Lehrzeit endet mit der Exmatrikulation, dem Austritt aus der SED und der Flucht nach Reykjavík, mit der die Wanderjahre beginnen. Über Island, Ostberlin, Island, Süditalien, Westdeutschland und noch einmal Island, nach Arbeit in einer Fernsehröhrenfabrik, „im Fisch“ und in einer Teppichweberei, nach zwei Schwanger- und einigen Liebschaften, kehrt sie 1965 schließlich nach Leipzig zurück.Dort bewirbt sie sich ausgerechnet mit Gedichten, in denen sie so ziemlich jedes heiße Eisen der DDR anfasste, auf einen Studienplatz im legendären Literaturinstitut „Johannes R. Becher“. Und wird angenommen. Doch auch das zweite Studium endet im Frühjahr 1966 abrupt: Novak wird erneut exmatrikuliert. Und schließlich ausgebürgert, zehn Jahre vor Wolf Biermann.Im Schwanenhals, auch deswegen. Helga M. Novak ist ungebunden, ungläubig, ungehorsam und unverbesserlich, aber bestimmt nicht unverwundbar. Das weiß sie schon in jungen Jahren. Meist versucht sie, ihre Impulsivität zu zügeln, schirmt sich ab, fluchtbereit. Was sie aber oft nicht weiß: wohin sie fliehen könnte. So 1957, als sie den ersten „Bolzenschuss“ hinnehmen muss: Sie verpflichtet sich gegenüber der Stasi, ihre isländischen Mitstudenten auszuhorchen. Das ist ihr Damaskuserlebnis, ihre große Scham, die sie schon im Oktober 1991 öffentlich gemacht hat.Rückkehr aus den WäldernIm Versuch einer Rechtfertigung verfängt sich Novak auch in ihrer Autobiografie nicht. Sie beschreibt die Falle, den Köder, ihren Sündenfall. Und doch möchte man nach der Lektüre die Schlussverse ihrer 1965 veröffentlichten Tragoballade vom Spitzel Winfried Schütze in platten Reimen zitieren: „der schlechtste Staat auf dieser Welt / ist der der sich die Spitzel hält“.Ohnehin, Im Schwanenhals eröffnet viele Zugänge zu Novaks lyrischem Werk. Man lernt Dagur kennen, einen ihrer isländischen Gefährten, dem sie Mitte der Sechziger das famose Gedicht untauglich widmete. (Aus eben diesem Gedicht lieh sich Jürgen Fuchs 1983 für das Vorwort zu Novaks Lyrikband Grünheide, Grünheide die Worte, die zur gängigen Charakterisierung der Dichterin selbst geworden sind: „Die mit dem dünnen Fell. Die mit den weichen Augen. Die mit dem derben Maul“)Man spürt das Gewicht vom „Klumpen Hoffnung“, den sie im Gedicht Bekenntnis hinter sich herzieht. Man wird der Konsequenz ihrer Faustregel gewahr, die da lautet: „widersprich /widersprich / widersprich“. Man begreift ihre Angst, ihre Melancholie, ihre Heimatlosigkeit, die Im Schwanenhals auf jeder Seite spürbar ist und das ganze Werk durchzieht, man weiß, warum zum Stillstehen kein Platz mehr ist und sie die Nacht durchtanzt, wie es in gefaßt heißt, durchtanzen muss, nicht möchte. Warum als einzige Zuflucht das Schreiben bleibt. Eine riskante Zuflucht allerdings, weil sie nicht nur Obdach konstruiert, sondern auch einreißt. Eine Falle also, mit einem verlockenden Köder, auch hier.So schreibt Novak ihre Autobiografie schonungslos fort. In eine Reihe mit den ersten beiden Bänden passt der dritte Teil eher des Inhalts wegen, weniger der Form nach. Im Schwanenhals ist nämlich deutlich konventioneller geschrieben, kommentierender, chronologischer. Und auch dokumentarischer: Der Text greift auf die Erinnerung verschiedener „Eckermänner“ zurück, auf Stasi-Berichte und Briefe ihrer Freunde beispielsweise. Deswegen fehlt die Unmittelbarkeit der ersten beiden Bände. Vielleicht ist das eine Entwicklung, eine Entwicklung zur Souveränität. Vielleicht ist der Autorin für die kompromisslose Form aber auch die Kraft ausgegangen.Auf einen vierten autobiografischen Band muss nun niemand mehr warten. Dafür hat Novak mit den letzten beiden Kapiteln von Im Schwanenhals gesorgt, in denen sie in großen Sprüngen bis ins Hier und Jetzt hastet, die Gegenwart irgendwie einzuholen versucht. Eine Episode aus ihrer jüngsten Vergangenheit schildert sie dann aber doch noch ausführlich. Als Novak, die sich in den Neunzigern in die Ruhe der polnischen Wälder zurückgezogen hatte, 2004 nach Deutschland zurückkehren will, gilt sie den Behörden im Land der Dichter und Denker als erwerbslose Ausländerin ohne festen Wohnsitz, die keiner Aufenthaltsgenehmigung, geschweige denn eines deutschen Passes würdig sei. Auch hier: im Schwanenhals. „Oftmals ziehen die gefangenen Tiere das Eisen bis zum Tode hinter sich her“, so heißt es in dem Band. „Manche beißen sich den eigenen Fuß ab, um irgendwie frei zu kommen.“ Wer das aushalten kann, der lese Im Schwanenhals. Und die anderen beiden Bände ihrer Autobiografie. Und ihre Gedichte.
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