Ein Extremist der Bundesrepublik

Nachruf Christian Semler ist tot. Mit ihm verlieren wir mehr als einen der "wertvollsten" Redakteure der taz

Es war bei der großen Demonstration gegen den schnellen Brüter in Kalkar, im September 1977. Ich war als Polizeireporter meiner Zeitung hingeschickt worden, mit mir unsere Fotografin Barbara Klemm, die ich der besseren Bilder wegen dort dann und wann auf den Schultern trug. Wir befanden uns mitten im Gewühl, als wir bemerkten, wie neben einem langen Zug von Demonstranten ein formidabler Mercedes heranrollte. Da ich wusste, dass die Baustelle über viele Kilometer völlig abgeriegelt war – kaum eine Kneifzange kam irgendwo durch –, empfand ich das als eine Sensation. Schließlich hielt der Wagen vor einer Blaskapelle, die sogleich anfing zu spielen. Heraus kam ein Mann mit sicheren Bewegungen, einem langen Ledermantel und einer kleinen Brille. Beides ließ an Trotzki denken. Aber der Mann war Christian Semler.

Semler fungierte damals als Chef der KPD/AO (Aufbauorganisation). Zwölf Jahre später tat er das nicht mehr und wurde Redakteur der taz. Er hatte sich unterdessen als Kenner und Unterstützer der Oppositionellen in Osteuropa einen Namen gemacht, und wer hin und wieder die taz las, suchte dort seinen Namen. Dazu musste man nicht wissen, wer er war. Aber für die Eigenart der Studentenbewegung ist das symptomatisch. Seine Mutter war die Kabarettistin Ursula Herking, die als Schauspielerin auch in der Rolle der Seeräuberin Jenny brilliert hatte. Sein Vater war nach dem Krieg ein hohes Tier in der CSU gewesen, aber wegen Aufsässigkeit bei den Amerikanern in Ungnade gefallen.

Aufsässigkeit führte den jungen Semler auch rasch in die SPD und rasch wieder hinaus. Die 68er Revolte war seine Zeit, obwohl der Jurist da schon kein Student mehr war. Das gilt für etliche der damaligen Protagonisten und wird in Rückblicken zu wenig beachtet. Es ist ein Punkt, der vielleicht zu erklären hilft, weshalb er später bei den K-Gruppen landete. Zur Vorliebe für Mao mochte beigetragen haben, dass er kein Chinesisch konnte. Um zu verstehen und zu verabscheuen, was zwischen Helmstedt und Wladiwostok passierte, brauchte man kein Russisch zu können.

Für die taz war Semler – man kann es nicht anders sagen – wertvoll. Er war solide gebildet und geprägt von extremen Erfahrungen in einer von Erfolgen gesättigten Zeit. Er bedeutete für die Redakteure der jungen Zeitung ein Bindeglied zu den Ereignissen in den sechziger Jahren, die nur die ältesten unter ihnen erlebt hatten.

1996 konnte ich als Chefredakteur Semler für die Wochenpost gewinnen. Es war eine der besten Ideen, die ich damals hatte. Die Kolumne hieß „Gelungene Gesten“, und Semler hatte Freude daran. Jedes Gespräch mit ihm, wenn er sein Thema ankündigte, war ein Vergnügen. Über dem Text eine Zeichnung von ihm: Wuschelhaar, zerknautschtes Gesicht, kleine Brille. Nicht mehr Trotzki, eher Franz Schubert. Christian Semler starb am 13. Februar 2013 in Berlin.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden