Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels war immer ein politischer Preis. Zumeist wurden Schriftsteller ausgezeichnet, die für ein bestimmtes politisches oder allgemein-menschliches Engagement standen. Schließlich heißt er Friedenspreis. Manche dieser Ehrungen waren politischer als andere: Carl Friedrich von Weizsäcker erhielt ihn im Jahr 1963 für sein Engagement gegen eine atomare Bewaffnung; 1973 ging er gar an den Club of Rome für seine düsteren Voraussagen über die Knappheit unserer Ressourcen. Solch eine politische Entscheidung ist nun auch leider die diesjährige für den US-amerikanischen Internetphilosophen Jaron Lanier.
Man muss dem Blogger Jürgen Geuter, der bei Spiegel Online einen wütenden Kommentar geschrieben hat, re
Spiegel Online einen wütenden Kommentar geschrieben hat, recht geben: Dieser Friedenspreis klingt wie eine Kampfansage an die Idee des offenen Internets. Und das explizit im Namen der offenen Gesellschaft: „Eindringlich weist Jaron Lanier auf die Gefahren hin, die unserer offenen Gesellschaft drohen, wenn ihr die Macht der Gestaltung entzogen wird und wenn Menschen, trotz eines Gewinns an Vielfalt und Freiheit, auf digitale Kategorien reduziert werden“, schreibt der Stiftungsrat in der Begründung.Lanier interessiert sich nicht für die ÜberwachungWas meint er damit? Nun ist Jaron Lanier ja nicht Edward Snowden. In keinem seiner Texte ist der 54-Jährige ausführlicher auf die Überwachung durch NSA oder andere staatliche Dienste eingegangen. Dieses Thema scheint ihn nicht zu interessieren. Man muss zwar konzedieren, dass sein Buch Wem gehört die Zukunft? vor Snowdens Enthüllungen geschrieben wurde, aber dennoch, die Abwesenheit des Staates als Akteur fällt in Laniers Schriften auf. Überwacher sind für ihn Internetkonzerne wie Google, Facebook oder Amazon mit ihren „Siren Servers“. Darunter versteht er die Macht, sich die größten Computer zu kaufen, mit Datenaggregation und Geschwindigkeit die alten Industrien zu zerstören und dem Rest der Menschheit das Geld aus der Tasche zu ziehen.Der Staat ist für ihn sekundär, da er nur die „Siren Servers“ der Internetkonzerne kopiert und sich ihnen ähnlich macht. Zu bekämpfen ist für ihn jener Mechanismus, der nur ganz wenige in die Nähe dieser großen Computer lässt und dadurch mächtig macht. Laniers Therapie dagegen sieht vor, die Mittelschicht durch Copyright, Micropayments und andere Eindeichungen gegen die „Gratiskultur“ zu stärken. Dinge, die letztlich von der Politik, also eigentlich vom Staat, garantiert werden müssten.Noch einmal, die Unterwanderung des Internets durch staatliche Überwachung ist nicht Laniers Thema. Die Mitglieder des Stiftungsrats erinnerten sich wohl eher an seinen berühmten Vorwurf des „digitalen Maoismus“, den er Wikipedia gemacht hat. Sie formulieren es in der Begründung so: „Mit der Forderung, dem schöpferischen Beitrag des Einzelnen im Internet einen nachhaltigen und ökonomischen Wert zu sichern, setzt Jaron Lanier sich für das Bewahren der humanen Werte ein, die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens, auch in der digitalen Welt, sind.“Mit anderen Worten: Das Internet ist die Plage. Es hat uns ja auch Meyers Großes Lexikon weggenommen. Vergleichbar ist die Digitalisierung, „trotz eines Gewinns an Vielfalt und Freiheit“, allein mit der atomaren Wiederbewaffnung, der Umweltverschmutzung oder dem Klimawandel.Diesen Maoismus-Essay hat Lanier übrigens im Jahr 2006 veröffentlicht. Liest man ihn heute noch einmal, stellt man allerdings fest, wie veraltet er schon ist: Erstens wegen des schieren Reichtums der Wikipedia, die jeder von uns täglich nutzt. Auch wenn sich manche Artikel kritisieren lassen, für mich bleibt Wikipedia die Kathedrale des 21. Jahrhunderts. Als Lanier seinen Essay schrieb, diskutierte man noch, ob die Wikipedia so zuverlässig sei wie die Encyclopædia Britannica. Heute weiß man, dass sie alle Enzyklopädien übertroffen hat, weil Wissen in ihr atmet und sich entwickelt.Soziale Netzwerke als entfesselte faschistische MasseUnd zweitens: Weil Wikipedia schlicht und einfach noch immer funktioniert. Sie lief nie auch nur eine Sekunde lang Gefahr, in jenen Kollektivismus zu verfallen, den Lanier ihr anhängen wollte. Jeder Artikel ist ein demokratischer Prozess. Sein Vorwurf des Maoismus war damals schon perfide und ist heute obsolet. Natürlich tummeln sich auch Nazis, Linksextreme oder Islamisten im Netz, es gibt Mobbing und andere Niedrigkeiten. Aber das Netz hat aus sich keine totalitäre Ideologie hervorgebracht.Lanier bleibt dennoch dabei und sieht die sozialen Netzwerke tendenziell als Werkzeug einer entfesselten faschistischen Masse. Die Crowd als Mob: Erst kürzlich hat Lanier seine Kritik an der Idee eines offenen Netzes ausgebaut. Linux und Wikipedia sieht er als Bausteine einer melodramatischen Ideologie, die sich vor allem gegen die etablierten Kulturindustrien richtet. „Bemühungen wie Linux und Wikipedia mögen einige alte Machtzentren geschwächt haben, aber damit schufen sie nur Platz für neue Machtzentren.“ Lanier hat irre Vorstellungen darüber, wie man das Netz mit Micropayments für alle umbauen sollte. Aber diese Vorschläge nimmt niemand ernst, vielleicht nicht mal er selbst. Belohnt wird nun seine Diagnose, nicht aber seine Therapie.