Ein Ornament ist kein Verbrechen

Ausstellung Man muss nicht verschämt in der Ecke stehen, wenn man den dänischen Künstler Poul Gernes nicht kennt. Man muss ihn aber unbedingt entdecken - in einer Hamburger Schau

Ein kleines Bild an der Peripherie einer großen Ausstellung ignoriert die Grenzen seiner Rahmung: ein Wald- und Wiesenidyll in goldfarbener Einfassung. Die Farbe ist mit schmaler Pinselführung getupft und gestrichen. Auf der einen Seite eines Pfades ragen Baumkronen in den Rahmen. Auf der anderen berührt Blattgrün die auf dem Boden einer Lichtung angedeuteten Blumen, drückt mit Farbflecken auf die Einfassung, als hätte der Künstler geschmiert. Mit dieser verschmitzten Renitenz gegenüber dem klassischen Landschaftsmotiv, in einem Bild namens Untitled 1945–1946, öffnet sich eine Perspektive in der Rückschau auf das Werk des dänischen Künstlers Poul Gernes in den Hamburger Deichtorhallen. Sie umfasst wechselnde Stile aus 50 Jahren und bereitet durch den selbstironischen Eigensinn großes Vergnügen beim Betrachten.

Wer jetzt verschämt fragt, wer Gernes sei, muss nicht in der Ecke stehen. Außerhalb Dänemarks ist sein Werk vorwiegend in Kunstkreisen bekannt. Stelle man sich bitte mit blühender Fantasie vor, dass Jonathan Meese das Bauhaus penetriere und künstlerische Egozentrik fahren ließe, käme man in der Quintessenz salopp an das heran, was einen bei dieser Retrospektive in großer Fülle erwartet: Abstraktes und Stoffliches, darunter farbintensive Bilderserien mit Streifen, Zahlen und Zielscheiben; Blütenmuster, Türme aus Pappmaché und Ready-made-Objekte; eine wunderbar leichtgliedrige Installation in Form eines mit Silberfolie verpackten Traumschiff, das im Geschirr farbiger schmaler Bänder und Ketten von der Decke schwebt, und ebenso ganz Prosaisches wie den Gipsabdruck von Gernes’ Hintern in einer Schachtel oder den Künstler beim Erbrechen in einem Kotzfilm.

Gernes, der 1996 mit 71 Jahren starb, suchte nach neuen Kunstformen und lehnte den „ästhetischen Egotrip“ ab; Kunst sollte sich im gesellschaftlichen, nicht im elitären Raum abspielen und in der Rezeption für alle zugänglich sein. Er parodierte und provozierte die Vorstellung dessen, was Kunst sei, arbeitete im Kollektiv und gründete in den sechziger Jahren eine experimentelle Schule als Konterpart zur Akademie der schönen Künste in Kopenhagen. Für den Mehrwert seiner Bilder auf dem Kunstmarkt interessierte er sich nicht. Dem umfangreichen, empfehlenswerten Katalog zur Ausstellung entnimmt man, dass Gernes in den sechziger Jahren für einen Galeristen Bilder im 90-mal-90-cm-Format angefertigt hat, weil dieses Maß praktisch für den Transport war. Mit den Werken reiste der junge Galerist als fliegender Händler von Tür zu Tür.

Konzentrierter Farbenrausch

Ab 1980 verabschiedete sich der Maler vom veräußerbaren Kunstobjekt und zog mit leuchtenden Tönen in den öffentlichen Raum. „Bruder, ist das nicht eine schöne Farbe?“, ist als ein Zitat von Gernes in der Ausstellung zu lesen. Seine Gestaltungen beleben über 150 Gebäude in Dänemark, Innenräume und Fassaden, darunter ein Krankenhaus, ein Gefängnis, ein Kino und eine Brauerei. Im Kontrast zur Missbilligung des Ornaments in der klassischen Moderne schwelgte der Künstler im Dekor. In der Ausstellung ziehen seine Transformationen der Architektur in einem Loop auf dem Bildschirm an einem vorüber; ein konzentrierter Farbenrausch, der mit Kunst wie mit dem Besen die Eintönigkeit vertreibt und den sozialen Rahmen neu beschreibt.

Poul GernesRetrospektive Bis 16. Januar. Der Katalog kostet 68 , in der Ausstellung 48

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