Eine blühende Subkultur: entdeckt in Strafakten aus der Nazizeit
SEXUALWISSENSCHAFT Wird aus der Berliner Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft wieder das Ein-Mann-Unternehmen wie vor der Wende? In Juni sind neun ABM-Stellen ausgelaufen ...
Mit der Zeit wird er immer widersprüchlicher, dieser Alexander Rosanow, wenn man Annette Jubara zuhört. Rosanow, zugleich konservativ und progressiv, als Schriftsteller originell, unverblümter Antisemit, Frauenfeind, oder doch zumindest ein Kämpfer gegen die Idee von der modernen Frau. Rosanow, ein wichtiger Autor im Rußland der Jahrhundertwende. Das Bild vom Haus, von der traditionellen Familie stand im Mittelpunkt seiner Schriften, Religiosität und Sexualität waren Themen für ihn. Mondlichtmenschen heißt sein Buch über den Mythos des Christentums, von dem Annette Jubara auf der wöchentlichen Arbeitsbesprechung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft spricht.
Die Philosophin wird das Buch erstmals ins Deutsche übersetzen und herausgebe
tzen und herausgeben. Sie referiert vor zehn Leuten ein amerikanisches Werk über die russische Moderne, auch über Rosanow. Die Runde diskutiert, Denkansätze werden angegriffen, bezweifelt. Das Klima bleibt offen, Widerspruch bringt kein Gekränktsein. Das, meinen die versammelten Wissenschaftler, ist hier Alltag und gehört zu den Vorzügen der wissenschaftlichen Arbeit in der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, einem Projekt von »Förderband«. Keine Hierarchie, keine Karrieren, keine persönlichen Angriffe. »Wir haben alle etwas schräge Berufsbilder, sind Outcasts in der Wissenschaft, aber in den angrenzenden Fachbereichen doch anerkannt. Übrigens sind wir kein Teil der Schwulen- und Lesbenbewegung, denn in deren Schemata passen wir nicht rein.« So beschreibt Rainer Herrn die Situation. Auch als Sprungbrett an eine Universität wird die Forschungsstelle nicht mißverstanden. Wissenschaften verschiedener Disziplinen treffen sich hier, Fachleute, die ein Podium finden und ihr Thema fortführen können, auch nach der Abwicklung, wenn eine Stelle oder ein Projekt nicht verlängert wird. Im Notfall tun sie das selbst für drei Mark die Stunde. »Frau Doktor Sozialhilfeempfängerin«, sagt An dreas Pretzel - die Wut über die Bedingungen, die das ermöglichen, und der Respekt für die Kollegin, die das aushält, klingen mit. Aber etwas Seltenes ist es an dieser Forschungsstelle nicht, für minimalsten Lohn zu arbeiten.1982 gründete in Westberlin eine kleine Gruppe von Schwulen und Lesben mit starkem historischem Interesse die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Sie wollte verhindern, daß man bei den damals bevorstehenden offiziellen Veranstaltungen zum 50jährigen Jubiläum der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eine Opfergruppe wieder einmal vergessen oder jedenfalls doch weglassen würde, die Homosexuellen. Der Mann, den der neue Verein als Namensgeber wählte, war nicht schwer zu finden: Magnus Hirschfeld, dessen Institut für Sexualwissenschaft schon am 5. Mai 1933 zerstört wurde. So sehr muß den Nazis gerade dieser Forscher - Jude, Homosexueller - ein Dorn im Auge gewesen sein, daß seine Arbeit ganz besonders schnell zu beseitigen war.Die neue Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft bemühte sich seit 1982 darum, das ehemalige Institut in Berlin wieder einzurichten. Nicht, um Hirschfelds Arbeiten fortzusetzen, sondern um sich kritisch mit seinen Werken auseinanderzusetzen, die weit mehr umfassen als das, was man im allgemeinen mit seinem Namen verbindet, die Forschung über Homo sexualität. Sein Institut arbeitete vielmehr auch über andere Themen der Sexualforschung wie Empfängnisverhütung, Sterilisation, Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten oder Bevölkerungspolitik.Mit der Wende veränderte sich für die Mag nus-Hirschfeld-Gesellschaft fast alles. »Vorher«, berichtet Rainer Herrn, »war sie ein Ein-Mann-Unternehmen, das hieß Ralf Dose. Er schaffte es, Leute zu motivieren und trieb immer wieder Projekte voran. Es waren aber nur sporadische Aktivitäten möglich: Ausstellungen, die Transsexuellenberatung, Vorträge.«An der Jüdischen Volkshochschule bekamen die Mitglieder der neuen Gesellschaft die Möglichkeit, Vorträge zur Geschichte der Sexualwissenschaft, zur Sexualreformbewegung und über das Institut von Hirschfeld zu halten. Damit erreichte sie zum ersten Mal die Öffentlichkeit. 1985 gelang es den wenigen Leuten, eine Ausstellung zum 50. Todestag von Hirschfeld in der Bibliothek Preußischer Kulturbesitz zu eröffnen, entstanden in ehrenamtlicher Arbeit.»Anfangs«, erzählt der Sozialhistoriker Dose, »wußten wir gar nicht, worauf wir uns damit einließen. Zum Glück gehörte zum harten Kern der Gruppe ein erfahrener Ausstellungsmacher von der Bibliothek. Ohne ihn hätten wir es nicht geschafft.«Ein Jahr später gelang es, die erste ABM-Stelle für die Gesellschaft durchzusetzen. 1987 erschien die Denkschrift für ein neues Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, als Buch publiziert, aber ohne praktisches Ergebnis. Nach dem Ende der DDR schien es 1990 zum ersten Mal eine reale Chance für ein neues Institut an der Humboldt-Universität zu geben. Die Hoffnung trog, Sparzwänge waren stärker. Trotzdem änderte sich vieles für die Arbeit der Hirschfeld-Gesellschaft, fast alles eigentlich. Die Frage ist, ob das jetzt wieder rückgängig gemacht wird: die neun ABM-Stellen sind im Juni ausgelaufen. Jetzt gibt es noch vier SAM-Stellen* für das Ausstellungsprojekt »Sexualität und Moderne«, die laufen bis Mitte Oktober, der Antrag auf Verlängerung wird gerade geschrieben.Kontakte der Hirschfeld-Gesellschaft zu Interessierten im Osten gab es schon, als die Mauer noch stand. Rainer Herrn, promovierter Biologe an der Leipziger Universität, las die Veröffentlichungen der Gesellschaft seit den achtziger Jahren. Zu einer Vortragsreihe über Homosexualität im Leipziger Studentenklub Moritzbastei gelang es ihm 1987, auch Ralf Dose einzuladen. Herrn entschied sich, das Thema Homosexualität zu seinem Arbeitsschwerpunkt zu machen. Er wechselte an die Humboldt-Universität. Im Forschungsbereich »Bio-psychosoziale Einheit Mensch« waren viele Themen möglich. Aber 1990, ein Jahr vor Rainer Herrns Habilitation, wurde der Bereich als einer der ersten abgewickelt. Ralf Dose war es, der in der Phase der Entlassungswellen anregte, jetzt ABM-Stellen durchzusetzen, Projekte für zehn, zwölf Leute im Rahmen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft zu gründen. Rainer Herrn erzählt: »Wir suchten in Eile irgendwelche Räume, malerten, entwarfen Projekte, alles gleichzeitig. Der Ofen heizte nicht, wir hatten drei Bücherregale und einen kunstgewerblichen Tisch, saßen im Kalten und führten Bewerbungsgespräche. Es kamen immer mehr Wissenschaftler aus dem Osten, die irgend etwas Neues suchten. So fing es an. Zu sechst machten wir dann in kürzester Zeit eine Ausstellung über Hirschfelds Institut. Diese Arbeit führte uns zusammen. Inzwischen haben wir die Erfahrung gemacht, daß immer wieder Leute, die eine Zeitlang hier arbeiten, hängenbleiben und weitermachen. Als Âassoziierte Mitarbeiter setzen sie ihre Projekte fort, finden hier Austausch und eine Art Zuhause. Davon kann man einfach nicht lassen.«Die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft wuchs, Themen kamen dazu, Leute auch, und seit 1992 gab es dann die Forschungsstelle in einem kleinen Zimmer in Prenzlauer Berg. Zu den Projekten, an denen Mitglieder der Mag nus-Hirschfeld-Gesellschaft zur Zeit arbeiten, gehört eine Untersuchung zur Verfolgung von Homosexuellen im Berlin der Nazizeit. Ein Thema des Kulturrings, er ist der Nachfolger des DDR-Kulturbunds. Andreas Pretzel war arbeitslos und seit einem halben Jahr ehrenamtlich bei der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft tätig, als er vom Vorhaben des Kulturrings erfuhr. Er bekam eine ABM-Stelle, und die Zusammenarbeit begann. Andreas Pretzel brachte Literatur von der Hirschfeld-Gesellschaft mit und vermittelte die Forschungskontakte. Kostbare Basis für das Projekt sind Strafakten aus der Nazizeit. Alte, lange verschlossen gelagerte Akten, durch glückliche Zufälle nicht vernichtet. Staubiges, brüchiges Papier. Ein Fund, der den Wissenschaftlern ermöglicht, einen Teil der Geschichte neu zu sehen. Andreas Pretzel sagt: »Die Akten waren nicht erschlossen. Wie viele es sind, läßt sich noch gar nicht abschätzen. Wir stützen uns jetzt auf Unterlagen, die Jugendsachen behandeln, in denen es um junge Leute unter 21 geht, nach Paragraph 175. Es war ein riesiger Aufwand, diese Akten überhaupt im Register zu finden. Jetzt liegen sie vor uns. Was wir nach Kenntnis dieser Papiere erzählen können, sind nicht die Biographien von Menschen, damit muß man ganz vorsichtig sein, wenn man Strafakten liest. Aber die Geschichte der Strafverfolgung erschließt sich daraus. Wir machen ein Buch darüber. Wir dokumentieren: Wer ermittelte - Gestapo, Kripo, Justizapparat? Wie funktionierte die Verfolgung, wer tat was, wie verliefen Verhöre, wie wurden Geständnisse erzwungen? Mit den Dokumenten können wir belegen, daß bisher gültige Annahmen nicht stimmen. Es ist offenbar nicht wahr, daß die Nazis erreicht hatten, daß es zwischen 1935 und 1945 kein Homosexuellenleben in Berlin mehr gab. Im Gegenteil, es existierte eine blühende Subkultur. Die Nazis haben es nicht geschafft, sie auszulöschen. Und wir können als erste etwas aussagen über homosexuelle Arbeiter und Angestellte, über diejenigen, von denen man bisher nichts wußte, weil sie im Unterschied zu Künstlern keine Texte oder Tagebücher hinterlassen. Aber 90 Prozent der Verfolgten waren Arbeiter und Angestellte.« Eine Gruppe von Opfern, die schwieg und nun gehört werden kann. In manchen Akten finden sich Fotos, private Post, Liebesbriefe. Entdeckt wurden auch Dokumente über Schwule in den Organisationen und Machtstrukturen der Nazis, auch Geschichten von prominenten Männern der Zeit.Für das Buch, das im Verlag Rosa Winkel im nächsten Jahr erscheinen soll, existieren zwei Konzepte, eins für eine Kurzversion, die Notvariante sozusagen. Gearbeitet wird aber zunächst an der anderen. Gleichzeitig entsteht in der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft die Ausstellung »Sexualität und Moderne«, die mehrere Module umfassen soll. Das erste Modul wird in diesem Jahr fertig, wenn die Mitarbeiter nicht inzwischen zu Ehrenamtlichen werden. »Sollten wir keine Stellen mehr bekommen«, sagt Rainer Herrn, »wird es wieder wie vor 1989: Ralf Dose ist die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, und es gibt einen Kreis von engagierten Leuten rund um.«(*) StrukturanpassungsmaßnahmeKontaktadresse: Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V., Chodowieckistraße 41, 10405 Berlin. Telefon und Fax: 030/44 139 73
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