Ich war ein Fechtmeister und ein Sänger“, schrieb er kurz vor seinem Tod. Vom offenen Fenster des Zürcher Spitals wehte Straßenmusik ins Sterbezimmer. Das Morphium ließ ihn arbeiten bis zum Schluss. Ja, Peter Glotz war ein leidenschaftlicher Intellektueller und Partei-Funktionär im besten Sinn, der bis zuletzt meisterlich „gefochten“ hat. Aber konnte man sich diesen Mann, der noch auf dem Sterbebett die Tagespolitik analysierte und, auch gegen sich selbst, einen fast brutalen Realismus pflegte, konnte man sich so einen als Sänger vorstellen? Er war ein Anhänger Willy Brandts, aber mit aufgekrempeltem Hemd, Klampfe und filterloser Kippe im Mundwinkel hätte er doch ziemlich deplatziert gewirkt. Glotz verkörperte maximale Distanz.
nz. Als Redner und Gesprächspartner konnte er so schneidend sein wie sonst nur Herbert Wehner. Vielleicht hatte er seine Verletzlichkeit, seine Sehnsucht nach dem einfachen Leben genauso tief in sich vergraben wie dieser.Politisch resigniertPeter Glotz hat mich seit der Schulzeit fasziniert. Als Publizist und Politiker hat er mich immer begleitet, ich habe mich – wie man so schön sagt – an ihm abgearbeitet. Ich war selten seiner Meinung, aber lesen musste ich alles von ihm. Persönlich begegnet bin ich ihm nur ein einziges Mal. Als ich, der ehemalige Vorwärts-Redakteur, 1988 mit meinem Abrechnungs-Buch Die SPD – staatstreu und jugendfrei durch die Partei-Bezirke tingelte, fuhr er mich nach einer Veranstaltung zum Bahnhof. Die SPD hatte gerade zwei Bundestagswahlen hintereinander verloren. Und Glotz war in dieser Zeit Bundesgeschäftsführer gewesen. Wir saßen im Fond seines Wagens, er wirkte in seinem hellgrauen Anzug mit Einstecktuch noch größer und habichthafter als sonst. Small Talk schien mir unpassend, Gescheites fiel mir nicht ein, und so schwiegen wir eine Weile vor uns hin. Dann sagte er plötzlich: „Ich könnte heute allein von meiner publizistischen Tätigkeit sehr gut leben.“ Wieso sagte er gerade das?Erst viel später wurde mir klar: Er hatte politisch resigniert. Der Frühmerker Glotz hatte erfahren, dass „die Beweglichkeit des Tankers“ eben doch nicht so groß war wie erhofft. Nach dem Machtverlust von 1983 flüchtete nicht nur der Fortschrittsgeist aus der SPD, auch die Bürgerrechte spielten kaum noch eine Rolle, die Öffnung zu den neuen Mittelschichten, zu den Eliten, zum vereinten Vielvölker-Europa misslang, am Ende blieb eine verschwommene soziale Gerechtigkeit als einziger Programmpunkt übrig. Das war dem Machttechniker Glotz zu wenig. Er trat 1987 vom Amt des Bundesgeschäftsführers zurück, wurde Gründungsrektor der Universität Erfurt, später Professor in St. Gallen. Eine geistige Wende wie Erhard Eppler wollte er nicht vollziehen, ein intellektueller Spezialist wie Egon Bahr war er nie gewesen, und die Rolle des Außenseiters, die einer wie Günter Gaus knurrend spielten war dem ehrgeizigen Aufsteigertypus Glotz zuwider.Er war der letzte SPD-Intellektuelle, der über das eigene Lager hinaus wirkte. Wie Willy Brandt hatte er sich von rechts in die Partei „eingefädelt“, fand in Waldemar von Knoeringen einen idealen Ziehvater und konnte sich so in der SPD-Diaspora Bayerns relativ leicht nach oben schlängeln. Mit 29 Jahren schon Konrektor der Universität München, kurz darauf stellvertretender Landesvorsitzender der bayerischen SPD und Bundestagsabgeordneter, sah er es als seine Hauptaufgabe, die radikalisierten bayerischen Jusos kleinzuhalten und die neomarxistischen Ausläufer der Studentenbewegung argumentativ zu bekämpfen. Mit Glotz konnte man den alten Revisionismusstreit noch einmal in allen Feinheiten ausfechten, und es war klar, dass er für den größten Pragmatiker in diesem Kampf, für Georg von Vollmar, Partei ergreifen würde. Mit Glotz konnte man aber auch über den „dritten Weg“ des Austromarxisten Otto Bauer und über den „historischen Kompromiss“ des Eurokommunisten Enrico Berlinguer diskutieren, wobei es ihm eine diebische Freude bereitete, Antonio Gramsci oder die französischen Sozialphilosophen Pierre Bourdieu und André Gorz gegen allzu linke Spinner ins Feld zu führen.Diese Debattenfreudigkeit war nicht überflüssiger Luxus, wie manche bis heute glauben, sondern absolut notwendig, um die Identität der eigenen politischen Bewegung zu festigen. Die Genossen erduldeten das, solange die Sozialdemokratie im Zenit ihres Erfolges stand. Die Troika aus Olof Palme, Bruno Kreisky und Willy Brandt regierte Anfang der siebziger Jahre unangefochten und verwandelte die verstockten europäischen Nachkriegsgesellschaften in moderne Wohlstandsgesellschaften. Die Sozialdemokratie galt als Speerspitze des Fortschritts: Sie war europäisch orientiert, technikaffin und linksliberal. Und genau das sollte sie – nach Peter Glotz’ Vorstellung – auch bleiben. Nur so könne die europäische Linke ihre „kulturelle Hegemonie“ erhalten und die Macht weiter ausüben.Für ElitenförderungEs kam, wie wir wissen, ganz anders. Die Partei folgte ihrem Intellektuellen nicht. Doch selbst aus den Rückzugsgefechten des Peter Glotz in den neunziger und 2000er-Jahren wäre für sie noch manches zu lernen. Er hat sich nie aus der Spur bringen lassen, plädierte für Deregulierung, Privatfernsehen, Elitenförderung, Hochschulgebühren und Agenda 2010 – und verhielt sich (unfreiwillig?) in seiner Fortschrittsvernarrtheit doch marxistischer als Linke und linke Sozialdemokraten zusammen. Zwei Themen lagen ihm besonders am Herzen: die Transformation Europas und die Transformation des Kapitalismus.Viele haben mit Kopfschütteln registriert, wie verbissen dieser Mann in seinen letzten Jahren die Renationalisierung Deutschlands bekämpfte. Der Wiedervereinigung stand der böhmische Intellektuelle mit Abscheu gegenüber. Bis zuletzt beharrte er auf Bonn als Hauptstadt, denn er fürchtete eine rückwärts gewandte „falsche Normalisierung“ und verwies auf die bittere Geschichte seiner böhmischen Heimat. Die Re-Nationalisierung Deutschlands, so seine Prophezeiung, würde die Re-Nationalisierung der Nachbarländer nach sich ziehen. Das alte Vielvölkerreich Österreich-Ungarn sei deshalb als Blaupause für Europa geeigneter als eine neue Vormacht Preußen. Aber das wollte seine Partei nicht hören. Mit Böhmen konnten die ‚geschichtslosen Gesellen’ nichts anfangen. Und da Glotz zu allem Überfluss auch noch ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ einforderte – zusammen mit der erzkonservativen CDU-Politikerin Erika Steinbach – schob man ihn langsam in die Schmuddelecke. Diese Dummheit wird sich noch rächen.Rächen wird sich auch, dass die SPD ihren „Vordenker“ nicht ernst genug nahm, als er 1999 (!) von der Notwendigkeit sprach, den aufkommenden „digitalen Kapitalismus“ zu zivilisieren. Lange vor Kai Diekmann und Philipp Rösler hatte er sich im Silicon Valley herumgetrieben und dort die Zukunft Europas studiert. „Der Industriekapitalismus“, erklärte er den staunenden Genossen, „wird durch Dematerialisierung, Beschleunigung, Dezentralisierung und Globalisierung in eine deutlich weniger regulierte Ökonomie transformiert.“ Er beklagte die europäische Ignoranz, dem digitalen US-Kapitalismus, der „unsere gesamte Gesellschaft durchschütteln wird“, nichts Regulierendes entgegenzusetzen. „Das Internet“, warnte er, „ist kein selbstgenügsames und neutrales, riesiges Computerspiel, es ist ein Ort der Machtverteilung ... Vielleicht sollten wir es nicht den Märkten und den Unternehmen allein überlassen, die Entwicklung zu bestimmen und die Debatten zu dominieren. “Weil Glotz die Digitalisierung, den Finanzkapitalismus und Europa von Anfang an zusammendachte, ist sein Ansatz tausend Mal realitätsgesättigter als alles, was die Netzgemeinde der Digital Natives in den vergangenen 14 Jahren an theoretischer Durchdringung des Phänomens Internet zustande brachte. Glotz, der kühle und rücksichtslose Analytiker, lief nie Gefahr, der einlullenden Illusion zu erliegen, man könne das Internet als autonomen Raum betrachten, der den Gesetzen des kapitalistischen Marktes nicht unterliege.Der Preis, den eine Partei zahlt, die es verlernt hat, auf ihre Intellektuellen zu hören, sind die berühmten „verlorenen Jahre“. Peter Glotz hat sein Bestes gegeben, er hat seiner Partei zu einem letzten Glanz verholfen. Doch in seinen Memoiren, die in der Woche seines Todes erschienen, zog er eine bittere Bilanz: „Jetzt liegt die Partei der achtziger Jahre, die in den Neunzigern zur Erneuerung unfähig war, in Trümmern“.
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