Wer die Moderne begreifen will, muss sich zunächst ins TMÜ vertiefen. Dort, in dem einige 100.000 Jahre zurück liegenden Tier-Mensch-Übergangsfeld, liegt der Schlüssel zum Verständnis des Menschen. Irgendwann ist aus dem zufälligen Gebrauch von vorgefundenen Hilfsmitteln der systematische Gebrauch von hergestellten Werkzeugen, später von industriellen Produktionsmitteln geworden. Den Menschen als Werkzeugmacher, als "toolmaking animal", zu verstehen, das war vor 20 Jahren die wichtigste Forderung an die Erstsemester, die am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin die bewusst mit großem K geschriebene Kritische Psychologie zu studieren begannen. Der genetische Code war damals ausschließlich ein Thema der Biologie, ohne Be
Europas größter Biotech-Kindergarten
GRÜNDERJAHRE Der Pfad der Wissenschaft muss nicht tugendhaft sein, seid so schnell wie die Amerikaner und versilbert eure Erkenntnisse - diese Botschaft der Politik ist in der deutschen Wissenschaftlerszene mittlerweile angekommen
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Belang für das Verständnis des modernen Individuums.Folgt man den schärfsten Kritikern der heutigen Biotechnologie, dann befinden wir uns wieder in einem Übergangsfeld, an dessen Ende der Mensch zum Genmacher, zum "genemaking animal", wird. Dann wird er nicht nur die Natur mit seinen Werkzeugen beherrschen, sondern sie erschaffen, mit geplanten Eigenschaften, nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern letztlich auch sich selbst. Ob sich solche Thesen künftig als naive Stilblüten oder frühe Warnungen entpuppen, weiß heute niemand. Die Naturwissenschaftler jedenfalls zeigen sich vom Eifer des Feuilletons wenig beeindruckt. Sie wissen, dass Leben eine unendlich komplexe Angelegenheit ist. Vor jeder Erkenntnis liegen tausend vergebliche Versuche. Wenn allerdings Bahnbrechendes gelingt, dann - das haben nicht nur die US-amerikanischen, sondern mittlerweile auch die deutschen, in der Vergangenheit eher fachbornierten Biochemiker und Molekularbiologen begriffen - ist das nicht nur wissenschaftlich, sondern auch wirtschaftlich interessant. Das eigene Werk auch ökonomisch in der Hand zu behalten, Wissenschaft in der eigenen Firma zu betreiben, Grundlagenforschung und Verwertungsinteresse unmittelbar zu verbinden - dieses US-Modell der kleinen Forschungsfirmen hat sich auch in der Bundesrepublik durchgesetzt. Stolz verkündete Ende Juni das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), dass es in Deutschland mittlerweile mehr Biotechnologiefirmen gibt als in Großbritannien, dem bisherigen Spitzenreiter in Europa. Die fortschreitende Verwandlung von Wissenschaftlern in Unternehmer und die zunehmende Zahl von Doppelexistenzen - hier Lehrstuhl, da Firma - dürften das Bündnis von Geld und Genen noch weiter zementieren.Die Entstehung einer kommerziellen Biotechnologie quasi aus dem Nichts, das selbst in den USA zur Kenntnis genommene "German Biotech Miracle", ist ein wirtschafts- wie technologiepolitisch bemerkenswerter Vorgang. Für die Protagonisten dieses neuen Wirtschaftszweigs hätte die Ausgangssituation noch in der ersten Hälfte der neunziger Jahre schlechter kaum sein können: restriktive Gesetze, Argwohn in der Bevölkerung, massenhafte Abwanderung von Biologen, Biochemikern und Medizinern in die USA und Pharmakonzerne, die sich mit ihren Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten bereits vom Standort Deutschland zu verabschieden begannen. Nun, Gesetze kann man ändern. Das ist bereits im Dezember 1993 mit der Novellierung des Gentechnikgesetzes geschehen. Mit der Beseitigung "unverhältnismäßiger und sachlich nicht gerechtfertigter Einschränkungen und bürokratischer Hemmnisse" sei, so meint das BMBF heute, "die Trendwende in der Biotechnologie in Deutschland eingeleitet worden." In der Tat nur eingeleitet. Auch die seit 1992 aufgestockten staatlichen Fördermittel und das allmählich abnehmende Ressentiment der Öffentlichkeit, zumindest gegenüber der sogenannten "roten", medizinisch relevanten Biotechnologie, bildeten noch längst nicht die kritische Masse für einen Gründerboom. Was fehlte?Soweit sie versucht, nicht nur Serviceleistungen und unterstützende Technologien, sondern eigene neue Produkte zu liefern, ist Biotechnologie extrem risikoreich (von ursprünglich 1000 Arzneimittelkandidaten scheitern nach US-Statistiken 998), sehr teuer (bis zu 500 Millionen DM für ein einziges Medikament) und bedarf eines langen Planungshorizonts (fünf bis zehn Jahre bis zur Zulassung und Marktreife). All diese Merkmale hatte und hat auch die herkömmliche Pharmaindustrie. Insofern könnte man sich vorstellen, Biotechnologie sei geschaffen für die deutsche Tradition industrieller Großforschung, für den medizinisch-industriellen Komplex, der mit staatlichen Subventionen gefüttert wird. Dieser Gedanke kann 24 Jahre nach Gründung von Genentech, der ersten, von zwei Wissenschaftlern der University of California in San Francisco gegründeten Biotech-Firma neuen Typs, als weitgehend widerlegt gelten. Das revolutionäre, in die Grundlagen des Lebens eindringende Wissen verdankt sich, soweit es der privaten Wirtschaft entspringt, nicht primär industrieller Großforschung, sondern kleinen Forschungsfirmen, die am besten im Umfeld von renommierten Universitäten oder anderen öffentlichen Forschungsinstituten gedeihen.Regionale Netzwerke, sogenannte "Cluster", entstehen vor allem dann, wenn öffentliche Forschung sich kommerziellen Gesichtspunkten öffnet, wenn es auf der anderen Seite Firmen gibt, die ihrerseits nichts anderes produzieren als Wissenschaft und wenn sich zwischen beiden Seiten ein permanenter Austausch vollzieht. Weshalb Netzwerkstrukturen und nicht industrielle Großforschung der Biotechnologie adäquat sind, kann man leicht nachvollziehen. Sie folgt nicht dem herkömmlichen Muster: erst die Grundlagenforschung der Wissenschaftler und dann die Produktentwicklung der Ingenieure und Techniker. Sie bleibt quasi bis zum Ende eine durch und durch wissenschaftliche Angelegenheit und kann nur von Leuten betrieben werden, die ihr Fach kreativ beherrschen und dabei schnell und effizient agieren. Gefordert ist also weder der leicht verdrehte Professor noch der hierarchiebewusste Abteilungsleiter und schon gar nicht die geruhsame BAT-Mentalität des öffentlichen Dienstes. Gefordert ist der wissenschaftliche Unternehmer, der unternehmerische Wissenschaftler, der in der Lage ist, das zu betreiben, was die Amerikaner "Cut-Throat-Science" nennen: Halsabschneider-Wissenschaft, Forschung, die zum Punkt kommt und hart an ihrer eigenen Produktivität arbeitet. In hierarchisch gegliederten Großunternehmen ist diese neue Art, Wissen hervorzubringen, bislang kaum organisierbar.Wie aber sollen sich kleine Firmen finanzieren, die über Jahre hinweg Verluste schreiben, weil hohen Forschungsaufwendungen nur geringfügige Einnahmen gegenüberstehen? Wer sollte diesen extrem risikoreichen Firmen Geld geben? Wie können die Risiken verteilt werden? Für übliche Geschäftsbanken, die für ihre Kredite Sicherheiten verlangen, ist das nichts. Biotech-Firmen bieten keine Sicherheit, bestenfalls Hoffnung und Zuversicht. Kommerzielle Biotechnologie ist folglich ohne einen funktionierenden Markt für Risikokapital nicht machbar. Es muss Investoren geben, die sich auf dieses Geschäft mit hohen Risiken spezialisieren und an Neugründungen (start-ups) beteiligen. Kalkuliert wird damit, dass die wenigen start-ups, die es bis zur erfolgreichen Platzierung an der Börse schaffen, mehr einbringen als bei den unvermeidlichen Pleiten verloren geht. Um aber das ursprünglich eingesetzte Geld später an der Börse zu vervielfachen, bedarf es eines spezialisierten, unkomplizierten Börsenplatzes für Technologie- und Wissenschaftsfirmen. Hier übernimmt dann das breite Publikum die Risiken.All das gab es Mitte der neunziger Jahre in der Bundesrepublik nicht: keine funktionierenden Netzwerke zwischen Firmen und Universitäten, keine Gründerkultur, kaum Risikokapital und keinen Börsenplatz für Hoffnungsträger. Die Damen und Herren in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die sich sorgten, dass die Bundesrepublik nach der Informationstechnologie auch noch den Anschluss an die zweite wesentliche Zukunftstechnologie verpassen würde, standen vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Bestehende Förderprogramme mit zusätzlichen Mitteln auszustatten, hätte bei weitem nicht gereicht. Schließlich ging es nicht nur um Geld, sondern um neue Institutionen und Motivationen. So sah sich die damalige Bundesregierung unter Federführung des "Zukunftsministers" Rüttgers gezwungen, gewissermaßen aus dem staatlichen Reagenzglas heraus etwas zu schaffen, was normalerweise in privater Initiative von unten wachsen muss, wenn es Bestand haben soll.In der Not vergisst man alte Traditionen und lässt sich vom neuen Zeitgeist nicht blenden. Maßnahme Nr. 1: Der Staat wird selbst Investor. Wenn privates Kapital, das scheue Reh, nicht springt, wird es eben vom staatlichen Ko-Investor zur Futterstelle gelockt. Die für diesen Zweck passende organisatorische Hülle gab es bereits seit Ende der achtziger Jahre: die Technologie-Beteiligungsgesellschaft tbg, die in den ersten Jahren in einige kleinere Technologieprojekte investierte. Sie wurde in den vergangenen fünf Jahren zum größten Biotech-Investor der Bundesrepublik Deutschland. Diesem Vorbild folgten einige Bundesländer und gründeten ihrerseits Beteiligungsgesellschaften. Von den 424,31 Millionen DM, die 1998 in Biotech-Neugründungen investiert wurden, waren 346,91 Millionen öffentliches Kapital. Erst nachdem Bund und Länder die Risiken weitgehend übernommen hatten, engagierten sich die privaten Fonds.Maßnahme Nr. 2: Die regionale Wirtschaftsförderung wird auf den Kopf gestellt. Statt wie ehedem die Schwachen und damit den Ausgleich zu fördern, werden die Besten in einem Wettbewerb ermittelt und sie erhalten eine Extra-Prämie. Die Erfahrung, dass sich die Biotechnologie am besten in Clustern und Netzwerken entwickelt, wurde in einer Sternstunde bürokratischer Kreativität auf die föderalen deutschen Verhältnisse übertragen. So entstand der BioRegio-Wettbewerb, der im Oktober 1995 begann. Insgesamt beteiligten sich 17 Regionen, die glaubten, bereits Keime eines biotechnologischen Netzwerks vorweisen zu können. Die drei Sieger - Rheinland, München, Rhein-Neckar-Dreieck um Heidelberg - sowie die zusätzlich prämierte BioRegion Jena haben bis heute etwa 180 Millionen für Forschungsprojekte, Unternehmensgründungen und Koordinierungsbüros erhalten. Aber auch die anderen Regionen profitierten von der erstmaligen Erfassung und Vernetzung lokaler Ressourcen.Die staatlichen Beteiligungsgesellschaften und BioRegio waren die entscheidenden Geburtshelfer für die kommerzielle Biotechnologie. Hinzu kam der glückliche Umstand, dass mit dem Frankfurter Neuen Markt seit 1997 auch in der Bundesrepublik ein Börsenplatz für kleine Technologiefirmen zur Verfügung steht. Mittlerweile ist aus dem verzweifelten Versuch, Anschluss zu gewinnen, ein wahrhafter Boom geworden. Die Zahl derjenigen Unternehmen, deren ausschließlicher Geschäftszweck die Kommerzialisierung der modernen Biotechnologie ist, stieg von 75 (1995) auf 279 (1999). Die Zahl der Beschäftigten nahm in den beiden vergangenen Jahren jeweils um 40 Prozent zu, auf 8.000 Ende 1999. Am Neuen Markt sind 14 Biotech-Firmen notiert. Sie haben sich mehrheitlich glänzend, in einigen Fällen spektakulär entwickelt.Dass die deutschen Biotech-Firmen, soweit sie im Bereich Arzneimittel tätig sind, noch keine eigenen Produkte hervorgebracht haben, liegt in der Natur der Sache. Erst in einigen Jahren wird man sehen, ob die mit staatlichen Mitteln künstlich genährte start-up-Szene in der Lage ist, funktions- und konkurrenzfähige Medikamente hervorzubringen. Nicht ohne Spott und mit Blick auf den hohen Anteil öffentlichen Kapitals meint die Consulting-Firma Ernst Young in ihrem jüngsten Branchenbericht: "Deutschland kann jetzt für sich in Anspruch nehmen, Europas größten Biotech-Kindergarten zu besitzen."Viele der neu geschaffenen Unternehmen werden dem internationalen Konkurrenzdruck in ihrer jetzigen Form kaum standhalten. Sie verfolgen oftmals die Kommerzialisierung nur eines Produkts oder einer singulären Technologie. Um den Schwung aufrecht zu erhalten, legt nun das BMBF ständig neue Programme auf: BioChance soll junge Firmen mit aussichtsreichen Forschungslinien fördern. Mit BioProfile wird die Idee des regionalen Wettbewerbs fortgeschrieben: Auch kleinere Regionen sollen nun eine Siegeschance erhalten, wenn sie nachweisen, dass sie mit einem speziellen Profil eine starke Wirtschaftskraft entfalten können. Damit auch der öffentliche Forschungsbereich die Zeichen der Zeit erkennt, erhalten Nachwuchswissenschaftler mit BioFuture die Möglichkeit, "in einer unabhängigen, selbstständigen Arbeitsgruppe, Basisinnovationen in Grenzbereichen der Biotechnologie anzustoßen." Spätere Kommerzialisierung der Forschungsergebnisse in der eigenen Firma ist dabei explizit erwünscht. Der Pfad der Wissenschaft muss nicht tugendhaft sein, seid so schnell wie die Amerikaner und versilbert eure Erkenntnisse - diese Botschaft der Politik ist in der deutschen Wissenschaftlerszene mittlerweile angekommen.
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