der Turm. Der ganze Herr Fähgässn wirkte dann kühn. Aber das war nur eine Seite des gelben Mannes. Er hatte noch eine andere: eine dunkle.Diese Seite konnte ich hören. Jeden Tag zwischen 18 und 19 Uhr verdrosch er seine Söhne. Und ich hörte sie brüllen, alle drei: Fähgässn, A. und U. Zwischendurch klitschte etwas - es war nicht das Klatschen, dass ich kannte, es sirrte wie ein Pfeil aus Winnetous Köcher »sssiittt«. 18 Uhr »sssiittt« - Brüllen; 19 Uhr - Stille.Sah ich die Brüder am nächsten Morgen im Treppenhaus, hatten sie verheulte Gesichter und liefen als hätten sie Quallen im Arsch. Ich mochte sie nicht besonders, aber sie taten mir leid. Wofür, um Gottes willen, wurden sie jeden Abend so bestraft? Was hatten die ausgefressen? Und - was war »sssiittt«?Ich entschloss mich, mit A. zu sprechen. Er wollte nicht. Ich legte mein Taschengeld in Salmiakpastillen an, schenkte sie ihm, baute ein Salmiakpastillen-Schachtel-Draht-Telefon, und nach einiger Zeit hatte ich A. so weit, dass er mir bei einem heimlichen Treffen im Keller die ganze Wahrheit erzählen wollte.Im Keller. Ich ging nicht gern in den Keller. Der Hausmeister hatte sich dort aufgehängt. Aber es musste sein.A. redete nicht gleich, druckste herum, fragte, ob ich sein Freund sei, welche Hobbys ich hätte ... Ich erzählte ihm, dass ich der bekannteste Wild-West-Fan der Schule sei und natürlich sein Freund nur werden könne, wenn er mir erzählt, warum sie so verdroschen würden, und was »sssiittt« sei. A. schwieg eine Weile. Dann packte er aus: Er sprach leise und flüchtig. Was ich hörte, übertraf meine wildesten Phantasien: NICHTS hatten sie ausgefressen. Noch NIE. Sie wurden nicht bestraft, sondern belohnt. Und: Sie wurden nicht verdroschen, sondern sie spielten da oben Wild-West! Mit ihrem Vater! Szenen aus Filmen, die ich alle kannte. Und »sssiittt« sei etwas ganz besonderes ...Ich versprach A. eine weitere Schachtel Salmiakpastillen, und es war heraus: Sein Vater besaß eine einzigartige Sammlung. Die Original-Ledergürtel von Winnetou, Old Shatterhand, Old Surehand, Karl May, Gojko Mitic ... an dieser Stelle wurde A. immer eifriger - er sah mein ungläubiges Gesicht. »Und diese Gürtel«, sagte er, »wenn man sie richtig benutzt ...« um zum Beispiel eine Szene aus Blutsbrüder nachzuspielen, machten »sssiittt«! A. redete immer schneller, spielte eine Szene nach der anderen vor, riss sich seine Hosenträger ab, drosch auf die Holzleisten der Kellertür; »sssiittt« schrie er, »sssiittt«! Schließlich, da ich nicht mitmachte, hörte er wieder auf, sah mich an, wollte gehen. »Du glaubst es mir nicht«, sagte er still. Aber NATÜRLICH glaubte ich ihm!Ich kannte alle Filme, ich wusste genau Bescheid! Ich roch das Leder! So eine Sammlung! Ich war sprachlos. Das sagte ich ihm.A. schien erleichtert und wollte gehen. Aber, ich musste diese Sammlung sehen. Das, meinte er, würde nicht gehen. Sie hätten ihrem Vater versprechen müssen, von dieser Sammlung keinem Menschen auf der Welt zu erzählen. Keinem.Ich sollte sie NIE sehen? Aber ... an dieser Stelle brach unser Gespräch ab. Wir hörten Herrn Fähgässn die Treppe hinauf gehen. Es war kurz vor 18 Uhr. A. musste und wollte gehen. Ich verstand ihn so gut.An diesem Abend blieb ich noch eine Stunde allein im Keller, um ihr »sssiittt« nicht zu hören - hoffnungslos ausgeschlossen von den Spielen des Herrn Fähgässn. Oder hatte A. doch gelogen? Wie konnte ich das überprüfen und mitspielen?In der nächsten Zeit vergaß ich darüber alles.Abgesehen von solchen Lappalien wie Schulbrote vergessen, Sportbeutel, Schlüssel, Benehmen oder Essengeld, hatte ich auf dem Schulweg plötzlich das Gefühl ... (ich beschäftigte mich auf dem Weg grundsätzlich mit folgenden vier Problemen: a) Wie viel Schritte benötige ich, um mit geringstem Aufwand mein Ziel zu erreichen? b) Warum braucht man für jedes Fach ein Buch, wenn doch dadurch die blöde Tasche so schwer wird? c) Warum will Ernst Thälmann nicht, dass man nur jeden zweiten oder fünften Tag zur Schule geht? d) FÄHGÄSSN) ... hatte ich also das Gefühl: Irgend etwas war mit meinen Füßen!Innerhalb der nächsten Sekunden stellte ich besorgt fest, dass an meinen Füßen Schuhe steckten, die erstaunlicherweise denen glichen, die ich gewöhnlich zu Hause trug.Die besten Tage für meine Vergesslichkeit waren die, an denen ich zwischen 18 und 19 Uhr NICHTS hörte - ich wurde nervös, panisch, krank. Konnte es sein, dass Fähgässn die Sammlung nicht mehr hatte? Oder waren sie plötzlich ausgezogen? War mein Taschengeld falsch angelegt, hatte A. doch geschwindelt? Ich wurde dann so aufgeregt, dass ich alles vergaß - Atmen, Sprechen, die große Murmel im Mund meiner kleinen Schwester. Ich vergaß, dass man mit einer Metallschere keine elektrischen Leitungen durchschneidet, auch wenn der Toaster brennt. Ja, ich ließ meine eigene Mutter, welche wiederum ihren Schlüssel vergessen hatte, nicht in unsere Wohnung, da ich vergessen hatte, auf welchen Personenkreis sich »und lass niemanden herein« bezog.Diese für meine Familie ungewöhnlich aufregenden Momente bleiben jedoch in ihrer Anzahl überschaubar, da Herr Fähgässn im Grunde ein ziemlich zuverlässiger Gürtelbesitzer war. Hörte ich um 18 Uhr NICHTS, so hörte ich ALLES spätestens um 20 Uhr. Fähgässn war nicht vergesslich. Nur hinterhältig.Er zog aus, als ich im Ferienlager war. Ich konnte nichts dagegen tun. Als ich zurück kam, war er weg, mit ihm die Sammlung und die Söhne. Winnetous Gürtel habe ich nie gesehen.