Die Mongolei, in den 70 Jahren der Abhängigkeit von Moskau oft als 16. Sowjetrepublik verspottet, wird heute eher mit den osteuropäischen Transformationsländern als mit den mittelasiatischen Nachfolgestaaten der UdSSR verglichen. Zwei demokratische Machtwechsel innerhalb von zehn Jahren, und die politische Situation blieb stabil. Seit den Wahlen Anfang Juli geben die Postkommunisten wieder den Ton in Ulan Bator an. Wirtschaftliche Alternativen verbinden sich damit jedoch kaum.
Als in der Mongolei die politische Wende kam, betrug der Viehbestand etwas mehr als 11 Millionen. Zehn Jahre nach Privatisierung der Genossenschaftsbetriebe weiden mehr als 32 Millionen Tiere in den Steppen des Landes. Doch was wie eine Segnung der Marktwirtschaft klingt, erweist sich immer deutlicher a
mmer deutlicher als Fluch planlosen Wirtschaftens. Fast einen Meter hoch stand das Gras früher in der Steppe. Heute erreichen die Halme kaum noch ein Drittel dieser Größe. Das Land ist überweidet. Der nomadische Reichtum frisst seine eigene Grundlage.Etwa 40 Dollar bekommt ein Hirte für ein Kilo Kaschmir. Das reicht, um vier neue Kaschmirziegen zu kaufen. Die aber fressen die Grasnarben mitsamt Wurzel und lassen die Steppe veröden. Fünf Schafe auf eine Ziege - das wäre eine gute Mischung. Der Markt hat das Verhältnis auf drei zu zwei hochgetrieben. Als im vergangenen Sommer dann eine Dürre die Steppe austrocknet, Grasnarben von einer Mäuseplage befallen wurden und der kälteste Winter das Thermometer auf bis zu Minus 47 Grad sinken ließ, war die Jahrhundertkatastrophe perfekt. Über zwei Millionen Tiere erfroren oder starben an Entkräftung. Das hat jedoch den Gesamtbestand nicht wesentlich reduziert. Für mehr als 40.000 Haushalte aber bedeutet es den wirtschaftlichen Ruin. Etwa 200.000 Menschen überstanden den Winter nur Dank schnell einsetzender internationaler Hilfe.Ein Drittel der etwa 2,4 Millionen Einwohner leben heute wieder als Nomaden. Vor 1989/90 waren es erheblich weniger. Knapp über die Hälfte der Bevölkerung arbeitete damals in den Städten, vor allem in Ulan Bator. Die Urbanisierung ist nicht gestoppt. Sie hat nur ein anderes Gesicht bekommen. Wer heute in die Stadt geht, kommt nicht als nachgefragte Arbeitskraft, sondern als Elendsimmigrant. Prostitution, Kinderarbeit, Bettelei sind gängige Erscheinungen geworden.Und doch wird das Schicksal der Mongolei unter Transformationsexperten gelegentlich als Erfolgsgeschichte gehandelt. Auch wenn der Sprung von einer egalitären Mangelverwaltung in eine Art mongolisches Wirtschaftswunder nach dem Vorbild der südostasiatischen Tigerstaaten ausblieb. Immerhin, die Wirtschaft wächst im Schnitt mit drei Prozent jährlich. In Zukunft werden sogar sechs Prozent erwartet. Dennoch ist der erhoffte Reichtum bisher ausgeblieben. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt mit 40 bis 80 Dollar im Monat unter dem Russlands oder gar Chinas. Davon, dass die Mongolei so etwas wie ein Sprungbrett für Investoren auf den chinesischen oder russischen Markt werden könnte, ist wenig zu merken.Der Transformationsschock traf die Mongolen in drei unterschiedlich starken Wellen. Die erste, zu Beginn der neunziger Jahre, konzentrierte sich auf die Landwirtschaft, Handel und Dienstleistungsbetriebe. Die zweite "Große Privatisierung" umfasste mehr als 1.000 Unternehmen, von denen lediglich 20 Prozent überleben sollten. Der Absturz kam mit dem Ende der riesigen sowjetischen Subventionen und Absatzmärkte. Vor 1989/90 produzierte beispielsweise das (mit DDR-Hilfe aufgebaute) Fleischkombinat in Ulan Bator nicht nur für den heimischen Markt, sondern exportierte seine Produkte bis nach Sibirien. Dass der Viehbestand in der Mongolei in derart gefährliche Höhen schnellen konnte, liegt nicht nur an falschen Marktanreizen, sondern auch am Einbruch in der fleischverarbeitenden Industrie des Landes, die sich nicht mehr in der Lage sieht, entsprechende Mengen aufzukaufen.Politisch verantwortet wurde der Transformationsprozess zunächst von der verjüngten und marktwirtschaftlich gewendeten Mongolischen Revolutionären Volkspartei (MRVP). Die der Sozialistischen Internationale angehörigen Postkommunisten verloren allerdings 1996 ihre absolute Mehrheit im Parlament an eine Allianz aus National- und Sozialdemokraten. Damit begann die dritte und (bisher) folgenreichste Transformationswelle. Die jungen, oft im westlichen Ausland ausgebildeten Volksvertreter verordneten dem Land eine Schocktherapie, über deren Folgen sie vier Jahre später Macht und Einfluss einbüßten. Es war das Chicagoer Standardprogramm zur Beseitigung planwirtschaftlicher Restbestände: Energiepreisliberalisierung, Privatisierung des Wohnungsmarktes, Aufhebung von Importzöllen, Privatisierung der verbliebenen Staatsbetriebe, Sanierung des Bankwesens und strikte Inflationsbekämpfung.Die sozialen Folgen des Crashkurses sind allerorten zu besichtigen. Der Abstand zwischen Arm und Reich wächst. Für die neuen Reichen bietet Ulan Bator westlichen Luxus, während mehr als ein Drittel der Mongolen unterhalb der Armutsgrenze lebt. Von den inoffiziell 30 Prozent Arbeitslosen sind über die Hälfte Frauen. All das hat Konsequenzen für Gesundheit und Bildung. Noch gilt die Mongolei als ein Land mit relativ gut qualifizierten Arbeitskräften. Ob das angesichts der wachsenden Zahl von Analphabeten eine Generation später auch noch zutreffen wird, darf schon heute bezweifelt werden.Dass bei der Wahl Anfang Juli die Revolutionäre Volkspartei 72 der 76 Sitze im Großen Staatshural zurückerobern konnte, lag jedoch nicht nur an den sozialen Verwerfungen, sondern auch am politischen Gebaren der Jung-Demokraten. Schmiergeldaffären, Korruptionsvorwürfe und vier verschlissene Ministerpräsidenten haben das Image der Newcomer schnell ruiniert. Nun setzen die Mongolen mehrheitlich wieder auf politische Kräfte, die Erfahrung und ein langsameres Privatisierungstempo in Aussicht stellen.Schon als Opposition gelang es der MRVP den Verkauf des Energiesektors und anderer Staatsbetriebe an private Interessenten zu vereiteln. Die daraus resultierenden Millionen werden der Staatskasse wohl auch weiterhin fehlen. Das aber kann negative Auswirkungen auf die Anlagefreude ausländischer Investoren haben. Zwar hat der unspektakuläre Charakter, mit dem in Ulan Bator nun schon zum zweiten Mal ein politischer Machtwechsel vollzogen wurde, im Westen allgemein Achtung und Respekt erfahren. Ob dem aber auch frisches Geld folgt, bleibt abzuwarten. Und wenn, dann dürften sich die Investitionen wie gehabt auf wenige Bereiche der exportorientierten Industrie, vor allem auf den Kupferabbau und die Kaschmirproduktion, konzentrieren.Beides aber ist mehr als problematisch. Der Sturz der Weltmarktpreise für Kupfer hat der Mongolei im vergangenen Rechnungsjahr ein Handelsbilanzdefizit von 90 Millionen Dollar beschert. Die mongolische Außenwirtschaft steht und fällt mit den Ausfuhrerlösen der größten Kupfermine in Erdenet, die per Saldo schon heute höher sind als der gesamte Staatshaushalt. Und die andere Alternative, eine gesteigerte Kaschmirproduktion, dürfte die ökonomische, soziale und ökologische Krise der mongolischen Viehwirtschaft weiter zuspitzen.Noch ist nicht ersichtlich, mit welchen Mitteln die neuen alten Machthaber den strukturellen Problemen des Landes zu Leibe rücken wollen. Stärker noch als vor der politischen Wende zerfällt die Mongolei in zwei Gesellschaften - eine sesshafte und eine nomadisierende mit einer jeweils eigenen sozialen und kulturellen Werteskala. Wie aber soll ein derart zerrissenes und dünn besiedeltes Land von der dreifachen Größe Frankreichs organisiert und entwickelt werden? Schöne Gesetze allein reichen da nicht aus, zumal die wenigsten den Betroffenen bekannt sind. Und wenn sie es wären, würden sich viele als unpraktikabel erweisen. So hat die Mongolei beispielsweise als eines von nur vier Ländern Asiens eine Arbeitslosenkasse - in die aber kaum jemand einzahlt - und eine Krankenversicherung mit zehn Prozent Selbstbeteiligung, die für das untere Drittel dadurch faktisch wertlos ist.Entwicklung, so die Vertreter zahlreicher NGOs im Land, beginnt "unten", bei den Menschen. Die müssen nach 70 Jahren abhängiger Kommandowirtschaft wieder lernen, sich selbst zu organisieren, ihre Interessen und Rechte wahrzunehmen. Das aber braucht vor allem Zeit - mehr Zeit vielleicht, als die geschundene Steppe bereit ist, den Mongolen zuzugestehen. Das Gras steht niedrig, und der nächste Winter kommt bald.
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