Hommage Kürzlich wäre Raymond Chandler 125 Jahre alt geworden. Sein Detektiv Marlowe ist für viele Männer ein Held: cool, sentimental und auch noch witzig
Sommer 1958, Raymond Chandler mit dem Verlegerpaar Blond auf einer Party in London
Foto: evening standard/Getty Images
Eine Stadt, nicht schlimmer als andere, eine Stadt, reich und kraftvoll und stolz, eine Stadt, verloren und verlassen und voller Leere.“ Eine Stadt für Philip Marlowe, die Hauptfigur der meisten Romane und Erzählungen des Schriftstellers Raymond Chandler. Marlowe ist ein melancholischer Privatdetektiv, zugleich ein schnodderiger Charmeur und feister Filou, aber vornehmlich ein moralischer Held. Er und seine Kollegen – Ted Carmady, Johnny Dalmas, Steve Grayce, Walter Gage, Sam Delaguerra, Pete Anglich und Tony Reseck – führen vor, worauf es im Leben einzig ankommt: Man darf seine Überzeugungen nie aufgeben.
Philip Marlowe ist ein harter Kerl, hartnäckig und unermüdlich seiner Mission folgend, und das auch in Momenten, in denen ihm anderes angen
eres angenehmer wäre. „Ich hätte die Tür verriegeln und mich unter dem Schreibtisch verkriechen sollen“, klagte er einmal. Doch das wäre wider seiner Natur. „Ich höre manchmal nachts Schreie, und dann gehe ich nachsehen, was los ist. Dabei verdient man keinen Penny. Wenn man noch seine fünf Sinne zusammenhat, macht man das Fenster zu und dreht den Fernseher lauter.“Mit MitgefühlEr kann und will nicht anders. So zieht er immer wieder los, um für Gerechtigkeit und Moral zu streiten. „Ich brauchte einen Drink, ich brauchte eine hohe Lebensversicherung, ich brauchte Urlaub, ich brauchte ein Häuschen auf dem Land. Was ich hatte, war eine Jacke, ein Hut und eine Pistole. Das legte ich an und verließ das Zimmer.“ Seine zuverlässigen Begleiter sind Witz, Ironie und Chuzpe: „Ihnen gefällt mein Benehmen nicht? Macht nichts. Ich verkauf’s ja nicht.“Doch ebenso gilt: Marlowe ist ein zartbesaiteter, tieftrauriger und nachdenklicher Kerl. Einer mit Mitgefühl: „Ich weiß, wie das ist. Wenn Sie wollen, können Sie ein bisschen weinen. Ich werde es nicht gegen Sie verwenden. Ich bin auch nur ein großes Tränentier.“Diese Empfindsamkeit bestimmt Marlowe zum Helden, der an der Schlechtigkeit der Welt, der unmoralischen Umgebung, den Frauen und am Beruf leidet. „Wirklich, eine liebenswerte alte Dame. Ich fühlte mich wohl bei ihr. Es war eine Wonne, sie aus niedrigen Beweggründen betrunken zu machen. Ein toller Bursche war ich. Ich war stolz auf mich. Man erlebt eine ganze Menge in meinem Beruf, aber langsam wurde mir doch ein bisschen schlecht.“ Wenn es zu arg wird: „,Halt’s Maul, Schlaukopf‘, sagte ich und hörte auf, mit mir selbst zu reden.“Die Ermittlungen sind oftmals heikel, konfrontieren ihn mit skrupellosen Gangstern, deprimierten Gefährten und sonderbaren Gestalten, die Drinks in Gläsern kredenzen, die man als Schirmständer benutzen könnte. Und nicht selten trifft es den Detektiv hart: „Ich tastete nach meinem Hinterkopf. Ich hatte den Hut noch auf. Ich nahm ihn ab, nicht ohne Unbehagen, und befühlte den Kopf darunter. Guter alter Kopf. Ich hatte ihn schon ziemlich lange. Er war jetzt ein bisschen weich, ein bisschen verbeult und mehr als nur ein bisschen empfindlich. Aber ich konnte den Kopf immer noch brauchen. Ein Jahr würde er wohl noch halten.“Chandlers Detektive fallen oft auf die Schnauze – und für jeden Niederschlag ersann der Schriftsteller eine neue originelle Beschreibung; eine besonders bravouröse: „Der Fußboden kam hoch und prallte gegen mich.“Zurück zu den Ermittlungen: „Jedenfalls geht der erste Schlag immer ins Wasser. Man hat eine vielversprechende Anfangsspur, saust los, und dann sitzt man in der Sackgasse und guckt dämlich aus der Wäsche.“ So sind die Fälle, so ist das Leben. Was Marlowe und seine Kollegen mitunter melancholisch stimmt: „Ist das mein Bier? Ja, was ist eigentlich mein Bier? Weiß ich das? Habe ich das irgendwann gewusst? Lassen wir das. Du bist nicht menschlich heute Abend, Marlowe.“Und doch gibt es im Leben dieser Männer versöhnende Momente, bemerkenswerte Menschen. Meist sind es Frauen, etwa Kathy Horne, „eine hochgewachsene, etwas verwahrloste Blondine mit traurigen Augen“, die Ted Carmady anvertraut: „Ich trinke nie vor Sonnenuntergang. Auf die Art kann man nie versumpfen.“ Es sind Frauen, die sich den Helden moralisch ebenbürtig präsentieren, wie Jean Adrian, die Ted Malvern gesteht: „Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen. Ich spekuliere nicht etwa auf Mitgefühl, wenn ich sage, dass ich ein Flittchen bin. Ich bin in zu vielen miesen Schlafzimmern erstickt, habe mich in zu vielen dreckigen Garderoben ausgezogen, habe zu viele Lügen über mich erzählt, als dass ich was anderes sein könnte. Und deshalb will ich mit Ihnen auch nicht das Geringste mehr zu tun haben.“ Malverns lakonische Replik: „Mir gefällt, wie Sie reden. Machen Sie nur weiter.“Überhaupt taugen Chandlers Frauengestalten zu charmanten Begegnungen. Da macht Marlowe Mrs. Grayle ein Kompliment, woraufhin diese bloß bemerkt: „Sie kriegen doch wohl nicht einen kleinen Schwips, hm?“ Marlowe erwidert: „Man hat mich auch schon nüchterner gesehen.“ Dann das: „Sie warf ihren Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Ich habe in meinem Leben nur vier Frauen gekannt, die das tun konnten, ohne an Schönheit einzubüßen. Sie war eine von ihnen.“So verlieben sich Chandlers Helden manchmal und werden für Augenblicke glücklich, meist jedoch bleiben sie traurig zurück: „Sie lachte freundlich, sagte auf Wiedersehen und legte auf. Ich saß noch eine Weile da und nahm das Leben schwer.“ Die Einsamkeit dieser Figuren ist ungnädig: „Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und sah zu, wie das Tageslicht hinschwand.“ Früher oder später passiert dann aber doch etwas, poltern rachsüchtige Ganoven oder mürrische Polizisten ins Büro, oder es locken sonstwie und -wo ein Drink oder eine Pointe.Trunken- und AbwesenheitDenn das ist das Schönste an Chandlers Helden: Sie haben Humor. Ihr Witz und ihre Ironie halten sie aufrecht. Pointen sind dem müden Melancholiker – neben dem unbeirrten Festhalten an seinen Überzeugungen – ein Mittel, den schlechten Scherz des Daseins zu egalisieren. Und sie sind nicht geneigt, darauf zu verzichten: „Ich bin krank gewesen und habe meinen Morgenkaffee noch nicht gehabt. Qualitätswitze können Sie also von mir nicht verlangen.“ Dann gibt es Kaffee, und Marlowe wird gebeten, keine faulen Witze mehr zu reißen. „Ich werd’s versuchen. Ich kann aber nicht versprechen, dass ich mir alle guten Einfälle verkneife.“ Bei Frauen kommt das nicht immer gut an: „Immer die kleinen Witze. Was für ein seltsamer Mann.“ Darauf kann die Antwort folgen: „Witze, solange es geht. Und ein ganz gewöhnlicher Bursche, der bloß einen Kopf hat – und mit dem ist manchmal recht übel umgegangen worden. Und diese ‚Manchmal‘ haben meistens so angefangen wie jetzt.“Dieser Witz manifestiert sich in der Erzählhaltung, den einmaligen Vergleichen und in den Dialogen. Es sind grandiose Dialoge, die auch als Comic funktionieren würden, nicht zuletzt durch Angaben wie „knurrte er“ oder „ächzte sie“. „Er schnaubte, und seine Nüstern weiteten sich enorm. Sie waren schon vorher groß gewesen wie Mauselöcher.“ Einer der schönsten Dialoge: „Sie sind ein gerissener Bursche, Freundchen, das muss man Ihnen lassen. Sie haben mich glatt hinters Licht geführt.“ – „Deswegen muss ich noch lange nicht gerissen sein.“ (Die Sprachgewalt ins Deutsche gerettet zu haben, ist ein Verdienst der Übersetzer, voran Hans Wollschläger, Urs Widmer und Hellmuth Karasek.)So also sind die Helden, die Chandler erschaffen hat. Aber wie war Chandler? Prägten auch ihn Zweifel, Frustration und Einsamkeit? Teilte er Marlowes Liebe zu Frauen und Alkohol, Ironie, Melancholie und Witz? „Ja, ich bin genauso wie die Gestalten in meinen Büchern“, gesteht Chandler in Die simple Kunst des Mordes, um ironisch anzufügen: „Ich bin ein ruppiger Bursche und bekannt dafür, dass ich ein Wiener Hörnchen mit bloßen Händen zerbreche.“Raymond Thornton Chandler wurde am 23. Juli 1888 in Chicago geboren. Sieben Jahre später verließ der Vater die Familie. Daraufhin zogen seine Mutter und er nach London. Nach dem Schulabschluss lebte Chandler zeitweise in Frankreich und Deutschland und bereitete sich auf die Prüfung für den britischen Staatsdienst vor. Den Dienst im Marineministerium fand er jedoch so „zum Davonlaufen“, dass er nach einem halben Jahr kündigte und sich als freier Journalist versuchte. 1912 kehrte er nach Amerika zurück. Er verdinglichte sich in diversen Jobs, unter anderem als Buchhalter in einer Molkerei.1917 meldete sich Chandler freiwillig zur kanadischen Armee. Er kämpfte in Frankreich in Schützengräben und wurde später zur Royal Air Force versetzt. Wieder in der alten Heimat begegnete ihm 1919 in Los Angeles die fast 18 Jahre ältere Pearl Eugenie Hurlburt Pascal, Cissy gerufen. 1924 heirateten die beiden. Wegen Trunken- und Abwesenheit verlor Chandler 1932 schließlich seine letzte, durchaus lukrative Anstellung als Vizedirektor eines Ölkonzerns. Er zog daraufhin mit Cissy in eine kleine Wohnung nach Santa Monica und betätigte sich fortan als Schriftsteller. Ein gutes Jahr später erschien seine Detektivgeschichte (Erpresser schießen nicht) im renommierten Black Mask Magazine.1939 erschien sein erster Roman: Der große Schlaf. Vier Jahre später versuchte er sich als Drehbuchautor in Hollywood, wo er unter anderem mit Billy Wilder arbeitete. 1954 starb Cissy nach langer Krankheit – und Chandler drohte daran zu zerbrechen. Alkohol und Depressionen bestimmten fortan seinen Weg. 1958 erschien Playback, sein letzter Roman. Doch Chandler war bereits am Ende, ertrug das Leben nicht mehr. Er starb elendig am 26. März 1959 im kalifornischen La Jolla.Raymond Chandlers große Kunst bestand darin, Helden zu erfinden, die den vergaunerten Großstädten zwar hoffnungslos ausgeliefert sind, sich aber dennoch der Kapitulation widersetzen, tapfer behaupten und der Resignation und Unmoral widerstehen. Es ist ein Durchhalten um des Durchhaltens willen. Obwohl Philip Marlowe und seine Kollegen vielfach orientierungslos und müde durch die Stadt, ihr Leben und ihre Fälle taumeln, lassen sie sich von der verlorenen Unschuld der Gesellschaft nicht kassieren. Sie bleiben allzeit anständiger als ihre Umgebung. Sie haben weder Wahl noch Perspektive, lediglich ihre Überzeugungen. Die brauchen sie, um die Sache mit Anstand und Würde zu überstehen. Es gilt für sie ein Wort von Walter Benjamin: „Um die Moderne zu leben, bedarf es einer heroischen Verfassung.“
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