Am 25. Februar dieses Jahres wäre Max Kommerell - Literaturwissenschaftler, Essayist, Übersetzer und Dichter - 100 Jahre alt geworden. In den frühen zwanziger Jahren hatte er bei Friedrich Gundolf in Heidelberg und bei Friedrich Wolters in Marburg studiert und war dabei in den Bannkreis Stefan Georges getreten, war eine Zeitlang sogar Lieblingsjünger und Reisebegleiter des Meisters, der ihn zärtlich "Puck" taufte. Damals erschien auch sein erstes bedeutendes Buch: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928), getragen vom autoritären Geist Georges. 1930 nahm Kommerell, veranlasst durch Wolters´ Hagiographie des Kreises, seinen Abschied, verließ für immer das Zelt des Magiers, habilitierte sich in Frankfurt und hielt - bezeichnend
zeichnend genug - seine Antrittsvorlesung über Hofmannsthal, der sich einst ebenfalls von George abgewandt hatte. 1933 erschien sein großes Jean Paul-Buch, 1940 Lessing und Aristoteles, 1943 "Gedanken über Gedichte". Im Juli 1944 starb Kommerell, erst 42 Jahre alt, als Professor in Marburg an Hepatitis. Als Literaturwissenschaftler wird Kommerell in akademischen Kreisen bis heute geschätzt, als großer Essayist, der er auch war, aber kaum wahrgenommen - der Dichter Kommerell ist so gut wie vergessen (ähnlich der Dichter Gundolf). Er hat sieben schmale Bändchen mit Lyrik hinterlassen, Michelangelo- und Calderon-Übertragungen, einen etwas preziösen Roman mit dem Titel Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern, drei Dramen und die reizvollen Kasperlespiele für große Leute. Kenner seines Werkes wie Hans Egon Holthusen und Arthur Henkel sprechen von "hochbewusstem Epigonentum", in dem sich der eigene poetische Ausdruck immer wieder verstellt findet von einem "durch fremde Dichtung voreingenommenen Bewusstsein". Gleichwohl hat Kommerell auch Gedichte geschrieben, in denen seine ganz besondere Stimme zu hören ist, ein Lob der schlichten Schönheit des Seienden und ein unverwechselbar melancholischer Abschiedston. Besonders in seinem letzten Gedichtband mit dem etwas manierierten Titel Mit gleichsam chinesischem Pinsel (1944) kommt unbeirrt Eigenes zum Ausdruck. Und es ist bestimmt kein Zufall, dass der junge Helmut Heissenbüttel genau diese Gedichte mit der Hand abgeschrieben und aufbewahrt hat. Das vorgestellte Gedicht gehört in den zuletzt genannten Band und ist 1942 entstanden; anrührend und zugleich streng geformt in vierhebigen Trochäen, wie sie seit der Romantik beliebt sind. "Tag" und "Nacht", "Leben" und "Tod", "sinnlich" und "geistig" sind einander etwas schematisch konfrontiert. Ein kompliziertes Reimgeflecht verzahnt die beiden achtzeiligen Strophen kaum merklich. Da ich das Gedicht zunächst ohne Titel kennen lernte, ging ich lange davon aus, Kommerell habe sich darin als Dichter (nicht als "Gelehrter") in Szene gesetzt. In der ersten Strophe betrachtet der Autor beziehungsweise sein "Ich" sinnliche Erscheinungen wie Blumen, Tiere, Wolken - durch die Glasscheibe gebrochen, aus der Distanz des Fenstervierecks. Anderes will der Verinnerlichte von der bedrohlichen Welt lieber gar nicht wahr haben: "Mir genug des Weltgesichtes." In der zweiten ("nächtlichen", "geistigen") Strophe reden ihn die Buchstaben der toten Dichter, die in Büchern wohnen, an, und er spricht ihre Worte halblaut nach, in der Hoffnung, dass auch seine Texte nach seinem baldigen Tod noch im Gespräch mit den Lebenden sein werden. Welcher Dichter, welcher Deuter, wünscht sich ein solches Fortleben nicht? Ist Dichtung nicht überhaupt und schon immer ein Gespräch mit Toten (mehr als mit Lebenden), eine Begegnung mit dem Überlieferten - eher als mit dem, was auf den Bildschirmen als Aktuellstes erscheint? So ähnlich mag die unzeitgemäße Botschaft lauten, die dieser melancholische Meisterdeuter, wenn wir genau hinhören, uns zuflüstert.Max KommerellDer Gelehrte Tag. Das Fenster. Im Quadrat Mir genug des Weltgesichtes. Hohe Blumen, schlanke Tiere, Bild der Wolke, Gang des Lichtes: Was da in den Rahmen trat, Wird geheim und innerlich, Und ich reinige und ziere Seinen Aufenthalt: mein Ich. Nacht. Die Lampe. Wo ihr gelber Lichtkreis schwebt auf dem Papiere, Reden mich die Lettern an: Tote, die ihr Schweigen brechen. Meine Lippen ahmen ihre Sprache leise nach. So kann, Ach wie bald gestorben, selber Mit den Lebenden ich sprechen.Max Kommerell wurde 1902 im württembergischen Münsingen geboren. Er starb 1944 als Ordentlicher Professor in Marburg. Das vorgestellte Gedicht findet sich auch in dem Band Rückkehr zum Anfang, Ausgewählte Gedichte, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1956