Grausliger als ein Splattermovie

Sachlich richtig Erhard Schütz liest neue Sachbücher über Reklame, Viren und Vatergeschichten
Grausliger als ein Splattermovie

Illustration: Otto

So mancher hängt noch immer der Illusion von der verpassten Chance eines neutralen Deutschlands an, die Stalins Note von 1952 geboten haben soll, auch wenn es inzwischen dazu Widerleg en masse gibt. Dass es bei der propagierten „Demokratisierung“ à la Russe immer schon um Sowjetisierung ging, kann man jetzt im sogenannten Tjul’panov-Bericht en détail nachlesen. Es ist der Bericht des Obersten, der 1945 bis 1948 für die sowjetische „Informationsverwaltung“ in Deutschland, also für die Propaganda, zuständig war. Er liegt jetzt erstmals vollständig und umfänglich kommentiert vor. Unverändert seien die „Grundzüge unserer Propaganda“, heißt es darin, die Entlarvung der „reaktionär-imperialistischen Politik der Westmächte“, die „Propagierung der Erfolge und der gesellschaftlichen-demokratischen Umwälzungen in den Ländern der Volksdemokratie“ sowie „der gesellschaftlich-politischen Ordnung der UdSSR und der Vorzüge des sowjetischen sozialistischen Wirtschaftssystems“. Dass das nicht einmal bei der Mehrheit der Arbeiter Anklang fand, daran konnten dann nur die verräterischen Sozialdemokraten im Verein mit westlichen Agenten die Schuld tragen. Ein Gruselstück propagandistischer Selbstverblendung, zugleich aber auch ein hochinteressantes Dokument der sowjetischen Kulturpolitik damals!

Propaganda für geistige Produkte, Reklame für materielle Güter – ein etwas schlichtes Sortierschema. Joseph Goebbels hob es auf: Nur er durfte Propaganda betreiben. Alles andere war Reklame. Thomas Wegmann sieht Propaganda jedoch als genuinen Teil der Reklame, wie er die Literatur seit Goethe, die sich gerne mit der Heiligen Philologie ablichten ließ, tatsächlich unter einer Decke mit dieser Hure zeigt. Entstanden ist so ein auch sprachlich fulminantes, immer wieder amüsantes, allemal pointiertes literaturwissenschaftliches Hauptbuch, das eindrucksvoll demonstriert, wie fruchtbar Philologie und Kulturwissenschaft sich paaren können, wenn man’s kann; nämlich wissen, suchen und deuten. Man müßte viel weiter ausholen können, um das weit ausgelegte Beziehungsgeflecht von Autoren als verlegenen Werbefritzen und bei der erfolgreichen Markenarbeit an sich selbst, vom Werk als Reklame, Reklame im Werk und Literatur als Konkurrentin von Reklame zwischen Gottfried Keller und Rainald Goetz auch nur annähernd darlegen zu können. Daher nur so viel an dieser Stelle: Dieses durchweg spannend zu lesende Buch verändert unser Bild von der Moderne gründlich!

Ansteckung spielt in der Werbung eine wesentliche Rolle, nicht nur als virales Marketing. Viren als solche sind eher unangenehme Lebensformen, ob sich nun Herpes an erotikaffinen Körperteilen einnistet, oder ob Schweine-, Vogel-, Sprossengrippe uns in den Würgegriff der Pandämie nehmen. Vom prognostizierten Bioterror und den realen Digitalviren ganz zu schweigen. Nathan Wolfe, Primatenforscher und Mikrobiologe, stellt in einem beeindruckenden Durchgang die vielfältigste Lebensform auf Erden von ihren Anfängen bis zu unserem möglichen Ende dar, um schließlich zu diskutieren, wie man Seuchen-Prognosesysteme erfolgreich in Gang bringen könnte. Grausliger als ein Splattermovie, nützlicher allemal.

And now for something completely different. Nämlich zu Michael Rutschkys neuestem Buch, das kann, was Reklame gerne können möchte: aus dürren Daten (fast) eine Welt vor unseren Augen entstehen zu lassen. Eine vergangene. Instrumentiert mit den dienstlichen Merkheften des Vaters, allermeist lediglich Zahlen und Namen darin, gelingt ihm anhand familiärer Erinnerungen, durch Recherchen zu Firmengeschichten in souveräner Heiterkeit die bundesdeutschen Fünfzigerjahre so vor unser geistiges Auge zu stellen, als ob sie anders nicht hätten sein können: Steins Kulturfahrplan, ausgestattet mit einem Schatz von Prunkzitaten aus einem langen Leseleben, gewitzt durch sozialwissenschaftlichen wie solitären Blick. Virtuos, wie er aus dem Wechselspiel von Monotonie und Abweichungen nicht nur das Vater- und Familienleben, sondern das der Fünfziger rekonstruiert. Und nebenbei erfährt man etwas gar nicht so Nebensächliches: Wie er selbst zum Schreiben kam, der uns in so vielen Büchern mit feiner Diplomatie und freundlicher Gelassenheit immer wieder gezeigt hat, wie wir ticken und welches Werk uns treibt.

Der Tjul’panov-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Hg. v. Gerhard Wettig V&R unipress 2012, 39,90 €

Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850 – 2000 Thomas Wegmann Wallstein 2011, 62 €

Virus. Die Wiederkehr der Seuchen Nathan Wolfe Rowohlt 2012, 19,95 €

Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte Michael Rutschky Suhrkamp 2012, 19,95 €

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