Günther Rücker (1924-2008)

Nachruf Nachruf Günther Rücker

Ein persönliches Erlebnis vorweg. Günther Rückers letzter Spielfilm als Regisseur und Szenarist, Hilde, das Dienstmädchen (1986), vermischte in der Geschichte einer Kindheit in Böhmen am Vorabend der Einverleibung des Sudetenlandes in Hitlers Reich Privates und Zeithistorisches. In meiner Rezension bilanzierte ich damals: "Es scheint, als sei Günther Rücker von seinen persönlichen Erinnerungen so überwältigt worden, dass ihm der Abstand fehlte, sie anderen in künstlerischer Verdichtung zu vermitteln." Bei einer späteren Begegnung nahm mich Rücker beiseite, um mir zu sagen, dass ich Recht gehabt hatte. Ein zwischen Regisseuren und Kritikern eher ungewöhnlicher Umgang. Ich erzähle diese Episode, weil sie Rücker als einen gänzlich uneitlen Menschen charakterisiert, der sich, wie in vielen Äußerungen belegt, stets selbstbefragend auch mit seinen eigenen Arbeiten auseinandersetzte: "Unser aller schweres Gepäck war unsere Geschichte. Das Gepäck zu tragen hieß: Erinnern und Verantwortung." Dem ist er in seinem bewundernswert produktiven Schaffen gerecht geworden.

Am 2. Februar 1924 in Reichenberg (Liberec) als Sohn eines Tischlers geboren, war Rücker 1942 bis 1945 Soldat, ging aus britischer Gefangenschaft 1945 nach Leipzig, arbeitete als Neulehrer, Redakteur und Regisseur beim dortigen Sender, nebenbei Assistent am Schauspielhaus, bis er 1951 zum Berliner Rundfunk wechselte, ein Jahr später als freischaffender Autor. Bekannt wurde Rücker durch zahlreiche, oft monologische Hörspiele. Beim Film schrieb er zunächst Texte für Dokumentationen, unter denen der Kompilationsfilm über fast fünf Jahrzehnte deutscher Geschichte herausragt, Du und mancher Kamerad (1956, Regie: Andrew und Annelie Thorndike).

Mit seinem kühl-dokumentarischen Stil markierte 1961 Der Fall Gleiwitz (Regie: Gerhard Klein) einen Höhepunkt in der Defa-Entwicklung. Das von Rücker gemeinsam mit Wolfgang Kohlhaase geschriebene Buch enthüllte die Vorgeschichte des Kriegsausbruchs 1939. Obwohl Dogmatiker an der Parteispitze den Film als "objektivistisch" ins Abseits stellten, erreichte er eine Million Zuschauer. Schon Rückers erstes Drehbuch, das 1956 seine langjährige Zusammenarbeit mit dem damaligen Regiedebütanten Günter Reich begründete, das Lustspiel Junges Gemüse, fand bei der Obrigkeit geteilte Aufnahme, war doch ein in dieser Variation von Gogols Revisor auftretender Dramaturg mit seinen Ratschlägen für die Verfassung eines Drehbuchs realsatirisch verulkt worden.

Da Rücker in seiner Praxis solchen Ratschlägen nicht folgte, oft in thematisches Neuland vorstieß, mussten einige seiner Drehbücher jahrelang auf die Realisierung warten, zum Beispiel Der Dritte (Regie: Egon Günther), 1972 mit dem Hauptpreis in Karlovy Vary ausgezeichnet, und Bis dass der Tod euch scheidet (1979, Regie: Heiner Carow): Marksteine in der Reihe emanzipatorischer DDR-"Frauenfilme".

Sein Wolz - Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten (1974, Regie: Günter Reisch) ließ als ungenanntes Vorbild den lange tabuisierten Revolutionär Max Hoelz erkennen und konnte als Reflex auf die radikale junge westdeutsche Linke verstanden werden. Die Verlobte schließlich (1980 in der gemeinsamen Regie mit Günter Reisch) variierte mit der Zuchthauspassion einer jungen Kommunistin auf ungewöhnliche Weise das Defa-Traditionsthema "antifaschistischer Widerstand" und wurde mit mehreren internationalen Preisen der erfolgreichste Film Günther Rückers.

Sein Regiedebüt Die besten Jahre (1965) zeichnete mit der widerspruchsvollen Aufstiegsgeschichte eines Neulehrers ein gültiges Porträt der DDR-Gründergeneration. Zu ihr gehörte und bekannte sich, trotz mancher erfahrener Reibungen zwischen Ideal und Wirklichkeit, Günther Rücker. In den neunziger Jahren zog er sich aus der Öffentlichkeit nach Meiningen zurück. Hier ist er am vergangenen Wochenende nach langer Krankheit gestorben.

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