Einen Kritiker, der Macht, Angriffslust, Vereinfachungstalent und Popularität in sich vereinte wie Marcel Reich-Ranicki, wird es nicht mehr geben. Auch deshalb nicht, weil sich die historischen Bedingungen, die seinen Aufstieg begünstigten, nicht wiederholen werden. Der richtige Mann traf hier auf die richtige Zeit: auf eine Nachkriegsepoche, in der die deutsche Literatur eine einzigartige gesellschaftliche Repräsentanz genoss. Und die Bedeutung der Kritik bzw. ihrer Vertreter leitet sich nun mal von der Bedeutung der Literatur ab.
Aber! Ein bisschen was von der Lautstärke Reich-Ranickis, von seiner kämpferischen Schärfe täte unserer Literaturkritik gut. Ihre gegenwärtige Tendenz zur affirmativen Nettigkeit
mativen Nettigkeit ist mir bisweilen unheimlich, und ich befürchte, diese Tendenz hat auch mit der – natürlich begrüßenswerten – Verweiblichung der Kritik zu tun. Ich habe noch nie erlebt, dass sich zwei deutsche Kritikerinnen eine echte Debattenschlacht lieferten, wie die Männer der Reich-Ranicki-Generation das nun mal taten und riskierten.Keine Frage: So ein intellektuelles Gezänk ist für Frauen heikel. Sie kommen schnell als Zickenkriegerinnen rüber. Aber wenn wir schon Quote und Gleichberechtigung wollen, dann müssen wir auch die Hälfte der unangenehmeren Aufgaben übernehmen. Dazu gehört der Transport von Plutonium. Dazu gehört auch jene Art kritischer Debatte, die ohne ein Element persönlicher Feindschaft nicht zu haben ist. Ich war keine Verehrerin von Marcel Reich-Ranicki. Aber ich habe Hochachtung vor seiner Bereitschaft, nicht nett gefunden zu werden.Ursula März arbeitet als Literaturkritikerin für die "Zeit"Im Fernsehen hat er keine ErbenZwei Behauptungen: Menschen machen Fernsehen und nicht die Fernsehformate. Und: Fernsehen ist nichts anderes als Hörfunk mit Sichtbarmachung der Tonquelle. Sowohl der Mensch Marcel Reich-Ranicki als auch der „Lautsprecher“ MRR waren Belege dafür. Aber nicht von Anfang an. Ich erinnere mich noch, wie der damalige aspekte-Chef Dr. Dieter Schwarzenau den skeptischen Reich-Ranicki zum Fernsehen verführen musste. Ob das nur gespielt war, weiß ich nicht.Was ich aber weiß, ist, dass das Literarische Quartett seinen Erfolg einem Paradox verdankte: miserable Quoten beim normalen Fernsehpublikum, aber eine enorme Reichweite in die Kulturlandschaft hinein. Das Quartett vereinnahmte nicht nur die Weltliteratur, sondern drängte den fernsehkritischen Kulturschaffenden die Komplizenschaft auf. Als Sigrid Löffler weinte, war das eine Feuilletonnachricht.Was kam danach? Das Philosophische Quartett war vielen zu intellektuell. Elke Heidenreich befahl ihrem weiblichen Publikum viel zu streng: Lesen! Und Die Vorleser mit Amelie Fried und Ijoma Mangold klappten schon ihre Bücher zu, bevor sie überhaupt wahrgenommen wurden. Nein. Es gibt keine MRR-Erben im Fernsehen. Die Frage lautet heute sowieso anders: Ist das Fernsehen überhaupt noch das alleinige Massenmedium? Die Literaturkritik ist jedenfalls wieder dahin zurückgekehrt, wo sie herkam: wo nur gelesen wird.Volker Panzer moderierte bis zum Jahr 2012 das ZDF-nachtstudioEr hat die Menschen zu Lesern gemachtAls Frankfurter Adresse musste Marcel Reich-Ranicki die Gustav-Freytag-Straße angeben, bis zu seinem Tod. Solange er mit Büchern zu tun hatte, war er symbolisch von Antisemiten umgeben. Aber in der FAZ, deren Literaturteil er zum Heiligen Offizium gemacht hatte, wurde er nach schwierigen Anfängen jahrzehntelang geliebt. Und nicht nur dort. Seine Art, über Bücher zu schreiben, ließ Leute zu Lesern werden, die sich zuvor die Lektüre berühmter Schriftsteller nicht zugetraut hatten. Und als ihn das Fernsehen als Entertainer groß herausbrachte, der das Literarische Quartett beherrschte wie Thomas Gottschalk, der sein Freund wurde, spätestens da deutete es sich an, dass die Gustav-Freytag-Straße bald Reich-Ranicki-Straße heißen könnte.Reich-Ranicki hat das deutsche Rezensionswesen von dem literaturwissenschaftlichen Ballast befreit, den es von Friedrich Schlegel, den er schätzte, bis Walter Benjamin, der für eine ganze Generation nach 1950 zum Vorbild geworden war, zu leiden hatte. Er entakademisierte die Literaturkritik und das mit solchem Erfolg, dass selbst und gerade diejenigen, die ihn deshalb schmähten, ihrerseits Rezensionen wie Erlebnisberichte nach stattgehabter Lektüre schrieben. Hauptsache: nicht langweilig.Seine bedeutendste Leistung an der Literatur ist wohl die Frankfurter Anthologie. Mehr als 30 Jahre gab es Woche für Woche in der FAZ ein Gedicht mit Interpretation. Was war das Kriterium für ein auserwähltes Gedicht? Marcel Reich-Ranicki sagte es so: „Der Interpret muss das Gedicht lieben.“ Marcel Reich-Ranicki liebte die Literatur. Der Rest ist Staunen. Jürgen Busche war Chefredakteur der "Wochenpost"Im Netz herrscht Subjektivität statt AutoritätWie sehr viele hier offenbar unter den Literaturkritikern litten, erfuhr man erst, als das Internet zu einem Massenmedium wurde. Da brachen sich Ressentiments Bahn: Eitle Geschmacksdiktatoren, autoritäre Narzissten, korrumpierte Lohnschreiber, so wurde die klassische Kritik beschimpft. Womit allerdings nur ein weiteres Mal bewiesen wäre, welch hohen Rang sie hier innehat: Statt die Großkritiker zu ignorieren, haben die digitalen Publizisten noch immer nicht genug Selbstbewusstsein entwickelt. Nach großen Stimmen im Netz, wie es sie zum Beispiel in Frankreich mit Pierre Assouline gibt, sucht man hier vergeblich. Es liegt allerdings in der Natur des Netzes, dass alle Stimmen durcheinanderreden. Subjektivität ist begehrenswerter als Autorität. Dass allerdings auch da viel von historischen oder vampiresken Bestsellern erzählt wird und man eine wirkliche Meinungsvielfalt nur bei Amazon findet, zeugt von der Leidenschaft, mit der der deutsche Leser seine Literatur hegt und pflegt. Im Guten wie im Schlechten.Katrin Schuster ist freie LiteraturkitikerinMehr Leidenschaft heißt sein VermächtnisFernsehen und Kultur, geht das noch zusammen? Ja! Aber: Die Kultur muss sich auf das Medium Fernsehen einlassen. Nicht umgekehrt. Niemand wusste dies besser als Marcel Reich-Ranicki. Das Quartett – die bislang erfolgreichste Literatursendung im deutschen Fernsehen – war von Anfang an nicht im Elfenbeinturm der feingeistigen Literaturkritik beheimatet. Vier Kritiker sprachen 75 Minuten lang über Bücher. Das war radikal einfach und entschieden subjektiv. Die Protagonisten sparten nicht mit großen Worten, im Lob wie im Verriss. Die Urteile waren klar und griffig. Mit Vorliebe wurde gestritten. Klarer als andere hat Reich-Ranicki seine Sendung als Unterhaltungssendung verstanden.Unterhaltung? Ja! Kulturfernsehen darf unterhalten. Muss es sogar. Es ist ein Zerstreuungsmedium. Niemand schaut fern, um belehrt zu werden. Wenn es intelligent unterhält, wenn also Zerstreuung bedeutet: mit tiefgründigen Inhalten leicht, und heißt nicht leichtfertig, umzugehen, dann macht Kulturfernsehen alles richtig. Denn es ersetzt nicht das Feuilleton.Das große Verdienst vom Quartett war: die Leidenschaft in die kulturelle Debatte zurückgebracht zu haben. Was kann es Schöneres geben, als dass die Öffentlichkeit sich über Bücher und Autoren, über Kino oder Theater austauscht? In Wien gehört es zum Alltag, dass die Taxifahrer und die Kaffeehaussitzer über Neuigkeiten aus dem Burgtheater reden. Und dabei streiten, schimpfen oder lobhudeln. Das alles ist keine fundierte Theaterkritik. Aber es zeigt, dass die Vorgänge in der österreichischen Theaterwelt alle etwas angehen.Marcel Reich-Ranicki hat mit einem ähnlichen Bewusstsein Literaturfernsehen gemacht. „Der Alte hat ein lebendiges Interesse an allem, was auf literarischem Felde vorgeht. Und was er für bedeutsam und tüchtig hält, dem spendet er unaufgefordert, in jugendlicher Herzlichkeit, sein Lob... Er hat in den langen Jahren ... unendlich fördernde, herbfrische, knappe Kritiken geschrieben, zugleich knorrig und fein, zugleich scharf scheidend und schmiegsam nachfühlend.“ Diese Worte wurden über Theodor Fontane geschrieben, nicht über Reich-Ranicki. Sie stammen von Alfred Kerr, notiert im Januar 1895 in der Breslauer Zeitung. Doch für Marcel Reich-Ranicki haben sie Gültigkeit. Denn sein Vermächtnis für uns Kulturfernsehmacher ist: Mehr Leidenschaft!Daniel Fiedler ist ZDF-KulturchefIch sage Danke für die RücksichtslosigkeitWas würde ich heute tun, wenn sich Marcel Reich-Ranicki noch einmal in meine Nähe verirren würde? Er tauchte auf einmal auf, zu Besuch in der Staatsbibliothek. Seine Stimme war das Einzige, was man hören konnte. Er kam näher, mit raumgreifenden Schritten, als sei er im Inneren eines riesigen ozeanischen Tieres, das für einen Moment die Luft anhält. Es war die Gelegenheit, ihn herauszufordern, während ich mit dem Versuch befasst war, ein zweites Buch zu schreiben. Das erste war ihm nicht süffig und lebensprall genug. Im meckernden Tonfall zitierte er im Quartett die einzige erotische Passage und wollte dem Buch den Preis aberkennen, den es erhalten hatte. In meiner Erinnerung wurde es zum Opfer einer maßlosen Selbstinszenierung. „Aber Sie haben überhaupt nichts verstanden“, wollte ich ihm sagen. Dann blieb ich sitzen. Er erinnerte mich an meinen Vater, diesselbe Unerbittlichkeit jener Generation, die den Krieg erlebt hatte. Eine Zeit, in der die Literatur den Platz hatte, von dem man auf die Welt herunterschauen konnte, eine schwindelerregende Höhe. „Danke“, würde ich heute sagen. „Danke für die Rücksichtslosigkeit, die Energie, für die Liebe zur Literatur, die vor niemand halten machen darf, auch nicht vor denen, die schreiben.“ Obwohl natürlich kein Wort von dem, was Reich-Ranicki damals über mein Buch gesagt hat, stimmte.Rainer Merkel ist Schriftsteller, zuletzt erschien der Roman "Bo"
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