Am 2. Dezember 2009 saß ich abends in einem Hotelzimmer an der baltischen Küste und las Die Intellektuellen von Werner Mittenzwei. Viel mehr konnte ich nicht tun, denn es regnete in Strömen, einen Computer hatte ich nicht mitgebracht, und zudem war ich der einzige Gast im Hotel Dzintarjura in Ventspils. Ich wandte mich also dem Buch zu, das ich in der Tasche hatte, und verbrachte einen für mich denkwürdigen Abend. Wie viele andere Menschen fahre ich manchmal weg, um etwas ganz anderes zu erleben. Etwa einen langen Abend ohne jede Zerstreuung. Es gibt Menschen, die dafür in der Wüste ein Zelt aufbauen, andere gehen in die Berge oder ins Kloster. Ich fahre manchmal zu Fußballspielen.
An diesem Winterabend war ich als Fan von Hertha BSC unterwegs. Es war
C unterwegs. Es war die vermaledeite Saison, in der der Hauptstadtklub noch im UEFA-Cup und gleichzeitig schon gegen den Abstieg spielte. In der vorweihnachtlichen Gruppenphase des Bewerbs musste die Mannschaft nach Lettland, und Ventspils ist einer jener Namen, die meine Fantasie anregen. Ich wollte dahin, und damit begannen die Planungen für eine Reise, die mir in dreieinhalb Tagen die Grundbegriffe eines der baltischen Länder vermittelte.Flug nach Riga, Busfahrt nach Ventspils, Nacht im Dzintarjura. Einen halben Tag Landschaft, zwei Stunden Fußball, zahllose Eindrücke. Seither habe ich auf jener interaktiven Weltkarte, auf der viele von uns ihre Reisen verzeichnen, ein Fähnchen bei Ventspils und Riga. Weitere Fähnchen habe ich bei Constanta in Rumänien, Piräus in Griechenland, Lwiw in der Ukraine, Aue im Erzgebirge, um andere Orte zu nennen, an die mich der Fußball gebracht hat.Dabei könnte ich nicht sagen, dass ich als typischer Fußballfan reise. Ich trage nie ein Vereinstrikot, ich meide in der Regel den Block der mitgereisten Fans, ich buche kein Pauschalarrangement, sondern komme, wie man so schön sagt, individuell. Und nicht selten ist mir das Ergebnis beim Spiel egal. Das Groundhopping, wie der Begriff für diese Form des Reisens lautet, ist für mich eher ein strukturierendes Prinzip. Es gibt meinem unspezifischen Interesse an der großen Welt da draußen ab und zu eine Richtung. Reiseprojekte können sich an allem Möglichen festmachen: einem Bild in der Zeitung, einem Link im sozialen Netzwerk oder dem simplen Wunsch, mal in New York gewesen zu sein. Doch wie kommt man nach Ventspils? Eben.Polen und UkraineDie Spielpläne der europäischen Fußball-Bewerber sehe ich als eine große Landkarte, auf der mich die unbekannteren Namen interessieren. Natürlich habe ich schon einmal meinen eigentlichen Lieblingsklub, den FC Arsenal, in London spielen gesehen. Doch das bessere Ereignis war jenes sommerliche Vorbereitungsspiel, das der englische Topklub 2008 im burgenländischen Ritzing austrug. Man konnte damals beinahe den Spielern die Hand geben, während sie sich an der Seitenlinie aufwärmten. Nicht, dass ich auf diese Form von Kontakt besonders erpicht wäre; ich sammle auch keine Autogramme. Aber bei solchen Spielen bekommt man den streng reglementierten Fußball manchmal von einer etwas anderen Seite zu sehen.Man kommt in Stadien, in denen man noch ein wenig herumstreunen kann, in denen die Ordner ein Auge zudrücken, wenn man sich bis an die Bande nach unten stiehlt, oder wenn man sich die zweite Halbzeit aus einem anderen Sektor ansehen will. Manchmal kommt es auch zu kuriosen Momenten wie damals in Constanta, wo ich ein Länderspiel zwischen Rumänien und Serbien sah (mein offizieller Grund war, dass mit Maximilian Nicu und Marco Pantelic auch zwei Herthaner dabei waren, aber eigentlich brauchte es das gar nicht mehr). Ich war allem Anschein nach der einzige internationale Gast und bekam von den Sicherheitskräften einen eigenen Sektor zugewiesen. So stand ich also mit einer Hundertschaft Polizisten allein zwischen den rumänischen Fans und dem wilden Haufen der Serben, die ziemlich Radau machten und das Abbrennen von Feuerwerkskörpern wie ein nationales Kulturgut verteidigten.Was ich in den Stadien suche, suche ich auf den Reisen, die mich dorthin bringen. Es geht mir nur in zweiter Linie um das Ereignis, stattdessen achte ich auf das, was sich am Rande ergibt. Nach Ventspils hätte ich gar nicht fahren müssen, denn das Spiel war wegen diverser Regularien ohnehin nach Riga verlegt worden. Da Hertha nun einmal aber gegen Ventspils spielte, sah ich es als eine Ehrensache an, den Ort auch aufzusuchen. So weiß ich nun, wie sich die Ostsee im Winter anfühlt, und ich hatte Mühe, mir den berühmtem Strand so bevölkert vorzustellen, wie er sommers ist.Als ich neulich nach Lwiw fuhr, um das EM-Spiel Deutschland gegen Portugal anzusehen, verfiel ich auf eine etwas umständliche Variante, mit Hotelzimmer im ostpolnischen Rzeszów und ohne festen Plan, wie ich die letzten 120 Kilometer über die Grenze zurücklegen würde. So ergab es sich, dass ich vier Stunden vor Anpfiff vor dem Bahnhof Przemyśl an der östlichen Grenze Polens mit zwei jungen deutschen Fans an einen ukrainischen Taxilenker geriet, der uns durch ein fantastisches Gewitter über die neue Schnellstraße sicher ans Ziel brachte. Er bekreuzigte sich bei jeder der zahlreichen Kirchen, die wir passierten, und versetzte bei jeder abschüssigen Stelle den Motor in Leerlauf, um Benzin zu sparen. Damit hatten wir einen ersten Eindruck von den markanten Unterschieden zwischen den beiden EM-Gastgeberländern. In Polen ist die Religion auf dem Rückzug, und der Wohlstand nimmt zu. Die Ukraine ist arm und fromm. Das sind grobmaschige Zuschreibungen, außer sie zeigen sich konkret.Ich bin sicher, dass es unter den Groundhoppern eine rege Kultur des Austauschs gibt. Sie werden Foren haben, in denen sie die Fotobeweise für ihre Fahrten posten, und vermutlich gibt es auch Listen mit den interessantesten Orten, an denen man Fußball sehen kann. Von all dem weiß ich nichts. Für mich sind die Fußballspiele in der Fremde nichts als ein Anreiz, mich diskret irgendwo einzufinden, das eine oder andere Hindernis zu überwinden (nicht immer habe ich eine Karte für das Spiel, wenn ich losfahre), und meinem Interesse von Zeit zu Zeit eine Richtung zu geben. In meinem Geburtsland Österreich würden wir sagen: Ich schaue ein wenig vorbei. Besuch wäre schon ein zu starkes Wort. Als Groundhopper bin ich ein accidental tourist, der sich vom Los- und Spielglück verschiedener Mannschaften leiten lässt.Angola und IngolstadtGelegentlich muss ich mich auch von einem Traum verabschieden. Vermutlich wird es mir nicht mehr gelingen, den brasilianischen Altstar Rivaldo noch live zu sehen. Zu ihm habe ich eine merkwürdige Beziehung, seit er vor Jahren in Amsterdam auf einer dieser langen Fahrspuren auf dem Flughafen an mir vorbeiglitt. Der unwirkliche Moment blieb mir als seltsame Epiphanie in Erinnerung, und später, als mich die Leidenschaft für die Fahrten zu nicht alltäglichen Fußballorten allmählich in Besitz zu nehmen begann, sah ich an und an nach, wo Rivaldo gerade spielte.Er verbrachte zwei Jahre in Usbekistan, bei einem Club namens Bunyodkor. Das dazugehörige Stadion liegt in Taschkent, für mich ein magischer Ort, denn dort mussten bis vor 30 Jahre viele Flugzeuge auf dem Weg nach Asien zwischenlanden. Einmal war ich knapp davor, einen Flug nach Usbekistan zu buchen, einmal überlegte ich konkret, nach Jeddah zu fliegen, wo Bunyodkor ein Match in der asiatischen Champions League spielte. Doch erwiesen sich beide Szenarien als zu aufwendig, es hätte einer richtigen Reise bedurft, und dafür war damals nicht ausreichend Zeit. Nach Taschkent möchte ich immer noch, die Idee hat sich von Rivaldo gelöst, der Klub ist ja noch da. Rivaldo spielt in Angola. Das wäre auch eine Überlegung wert.Nun hat mein erster Club, die Hertha aus Berlin, einen zweiten Abstieg in drei Jahren hingelegt, und das heißt für mich: ich kann nun eine Weile kleinere Ziele in Angriff nehmen. Ich war noch nie in Ingolstadt oder in Paderborn. Oder in Regensburg. Für mich sind das lohnende Ziele. Denn mit dem Alltag des Fußballs erwische ich auch den anderen Alltag, und der beginnt bekanntlich vor der Haustür. So gesehen war mein Besuch beim Berliner AK 07 in Prenzlauer Berg vor ein paar Wochen eine Reise. Nur ein Buch hatte ich nicht dabei.
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