Unlängst "ist das alte Europa noch einmal aufgestanden. Der französische Staatspräsident spielt ein Spiel mit hohem Einsatz. Seine Gegner blicken mit Besorgnis, seine Anhänger mit Bewunderung auf die weltpolitische Philosophie, die er in anderthalbstündigem Monolog vor der Presse entwickelte." Er befürchtet alles in allem "den Missbrauch der Wirtschaftsmacht zur Ausweitung eines großen angloamerikanischen Herrschaftsraums, in dem Europa unwiderruflich in die Rolle eines von diesem Imperium unabhängigen Schutzbefohlenen herabgedrückt werden soll... "
Der Text klingt aktuell, ist aber ziemlich exakt 40 Jahre alt. Er erschien am 1. Mai 1963 in der Halbmonatsschrift der Bekennenden Kirche Stimme der Gemeinde. Autorin war die Publizistin Renate Riemec
tin Renate Riemeck, und der französische Präsident, vom dem sie sprach, hieß Charles de Gaulle. Riemeck hat sich immer wieder mit Europa befasst - für die historische Dimension in der aktuellen Debatte um die EU-Erweiterung wären ihre Texte sicher hilfreich. Sie war eine der wenigen in der bundesdeutschen Linken, die sich seinerzeit analytisch mit Europa befasst haben. Möglicherweise gehörten ihre Texte heute zur Pflichtlektüre in historischen Seminaren, wäre sie nicht zwischenzeitlich zu einer prominenten Politikerin der außerparlamentarischen Opposition und damit zur persona non grata der formierten Gesellschaft Bundesrepublik aufgestiegen.Dabei war die politische Karriere Riemecks eher kurz und dauerte nur von 1958 bis 1964. Sie brachte es immerhin auf eine Titelgeschichte im Spiegel, was seinerzeit noch etwas galt. Um den Aufstieg zu verstehen, muss man einige Fakten benennen, die zurückhaltend formuliert, verschüttet sind: Die junge Bundesrepublik strebte eine atomare Bewaffnung an. Dass eine solche Feststellung heutzutage bisweilen als Verschwörungstheorie denunziert wird, ist eher verwunderlich.Am 5. April 1957 hatte Kanzler Adenauer erklärt: "Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie, und es ist ganz selbstverständlich, ...dass unsere Truppen auch bei uns - das sind ja besonders normale Waffen - die neuesten Typen haben ..." - Daraufhin traten 18 Atomforscher mit dem "Göttinger Appell" an die Öffentlichkeit und erklärten, dass sie nicht bereits seien, sich an Adenauers Vorhaben in irgendeiner Weise zu beteiligen.Am 26. Februar 1958 veröffentlichten 44 Hochschullehrer unter Federführung von Riemeck einen Appell, in dem sie die Gewerkschaften aufriefen, die Atomforscher in ihrem Protest nicht allein zu lassen - das war Renate Riemecks Einstieg in die Politik. Bis dahin war ihr Lebensweg in ruhigen akademischen Bahnen verlaufen. Am 4. Oktober 1920 in Breslau geboren, studierte sie nach dem Abitur Philologie und Geschichte und promovierte 1943. Zwölf Jahre später wurde sie als Professorin an die Evangelische Pädagogische Akademie in Wuppertal berufen.Zusammen mit dem "Göttinger Appell" wurde der "Appell der 44" zu einer Initialzündung für eine breite außerparlamentarische Aktion. Die Regierung beeilte sich daraufhin, und am 25. März 1958 war die atomare Bewaffnung im Bundestag mehrheitlich beschlossen. Parallel wurden Volksbefragungen als Zeichen des Widerstandes vorbereitet. Als das Bundesverfassungsgericht schließlich ein Referendum verbot, gab es Einiges an Irritationen und in der Folge ein Abflauen der Proteste.Doch schon ab 1960 konstituierte sich die Bewegung mit den Ostermärschen neu. Außerdem entstand im Dezember 1960 die Deutsche Friedens-Union (DFU) als Partei, die sich zum Ziel gesetzt hatte, außerparlamentarischen Protest auch parlamentarisch zu artikulieren. Geleitet wurde die DFU von einem dreiköpfigen Direktorium, dem Riemeck angehörte, sie aber war der Star der Partei. Zum Wahlkampf 1961 warb die DFU auf Plakaten mit ihrem Bild und dem des Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer, der dem zugestimmt und sich klar gegen die atomare Bewaffnung gewandt hatte - was im Übrigen Adenauer außerordentlich beunruhigte, nachzulesen in seinen Memoiren.Für Renate Riemeck hatte das Engagement Folgen. Das nordrhein-westfälische Kultusministerium entzog ihr die Prüfungsberechtigung, was de facto eine Kaltstellung war. Sie wehrte sich zwar juristisch, legte aber nach Gründung der DFU ihr Lehramt nieder. Rolf Hochhuth bewertete sie in einer Rede als Preisträger des Geschwister-Scholl-Preises der Stadt München 1980 als "politisch verfolgt".Bei der Bundestagswahl 1961 erhielt die DFU 1,9 Prozent - für alle Beteiligten enttäuschend. 1964 dann schied Renate Riemeck aus dem Direktorium der Friedensunion aus. Sie arbeitete danach vorrangig publizistisch und lebte sehr zurückgezogen. Das verstärkte sich noch nach den Anschlägen der RAF und deren Verfolgung. Renate Riemeck hatte Ulrike Meinhof als Pflegetochter betreut.Doch sie wollte weder auf die "Terroristenmutter", noch auf den "Appell der 44" reduziert werden. Wer sie traf, erlebte sie als hoch belesene, ruhig argumentierende Frau. Renate Riemeck ist in der vergangenen Woche gestorben.