Am 28. November 1937, vor 55 Jahren, erschien in der dänischen KP-Zeitung Arbeiterbladet ein Steckbrief. Gewarnt wurde vor einem Deutschen namens Richard Krebs. Der Steckbrief war mit einem Passfoto aus dessen Gestapo-Ausweis versehen. Drei Jahre später schlug der angebliche Gestapo-Agent zurück: Er veröffentlichte in den USA unter dem Pseudonym Jan Valtin einen Bericht seiner Vergangenheit als Seemann, Revolutionär und Instrukteur der Kommunistischen Internationale, in der er gar nicht bestritt, für die Gestapo tätig gewesen zu sein, gleichwohl behauptete, dies sei mit Wissen und auf Veranlassung des sowjetischen Geheimdienestes GPU geschehen.
Diese ungemein spannende, angebliche Autobiografie, die auf jeder Seite absolute Authentizität behauptet, hi
8;t behauptet, hielt sich das ganze Jahr 1941 über an der Spitze der amerikanischen Bestsellerlisten, wurde in alle Weltsprachen übersetzt, löste eine Reihe von Publikationen in Skandinavien aus und wurde 1982 in Frankreich als la ombre rouge verfilmt.Auf Deutsch erschien das Buch erst 1957 unter dem Titel Tagebuch der Hölle und wurde nie von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Der Germanist Michael Rohrwasser, der sich in den achtziger Jahre als Erster auf die Spuren von Richard Krebs begab, berichtet, dass alle im literarischen Establishment der BRD, mit denen er sprach, das Buch zwar gekannt, niemand aber mit ihm und seinem Autor assoziiert werden wollte, aus Angst, es könnten irgendwann Akten auftauchen, die bewiesen, Krebs sei nicht Doppelagent, sondern Bona fide Gestapo-Spitzel gewesen.Geschichte von "unten"Als ich Tagebuch der Hölle 1989 zum ersten Mal las, ahnte ich dies alles noch nicht. Ich wusste nur, dass ich ein ungemein faszinierendes Buch vor mir hatte, das die Geschichte der kommunistischen Bewegung der zwanziger und dreißiger Jahre auf völlig neue Weise erzählte. Nicht als Parteigeschichte mit all ihren Thälmanns und Kongressen, sondern von unten, aus der Perspektive eines radikalen Seemanns, der nach einer Reihe von haarsträubenden Bewährungsproben Mitglied des Apparats wird.Der Autor berichtet, wie er ab 1931 unter einer Reihe von Decknamen durch Europa reist, aus dem Hintergrund Streiks dirigiert, Funktionäre höchsten Kalibers zur Rechenschaft zieht und nebenher noch Aufträge der sowjetischen Geheimdienste erledigt. Die Bezeichnung seiner Tätigkeit: Instrukteur. Völlig unabhängig von nationalen Parteigliederungen, doch mit allen Vollmachten ausgestattet, sind der Held und eine kleine Anzahl Mitarbeiter nur dem bis 1933 in Berlin ansässigen, streng geheimen Westbüro der Komintern verantwortlich, das die Politik aller kommunistischen Parteien Westeuropas in engstem Kontakt mit dem Kreml festlegt.Auch einige bekannte historische Ereignisse, etwa den Reichstagsbrandprozess, erzählt das Tagebuch der Hölle neu. Laut Valtin war der Angeklagte in Leipzig, Georgi Dimitroff, in Wahrheit Leiter des Westbüros und damit der wichtigste Geheimnisträger der Komintern. Um ihn zu schützen, verhaftete die Sowjetunion nach seiner Festnahme ihrerseits eine Reihe deutscher Staatsbürger und presste dem Dritten Reich das Versprechen ab, den Bulgaren nach der Verhandlung freizusprechen. Daher der weltweit bewunderte Mut, mit dem sich Dimitroff vor Gericht verhielt.Nach Lektüre dieser und ähnlicher Passagen wurde ich neugierig: Wer war dieser Jan Valtin? Hatten Historiker je versucht, den Wahrheitsgehalt seines ungeheuerlichen Berichtes zu überprüfen? Eine schnelle Durchsicht der Namensregister historischer Standardwerke zur Geschichte der zwanziger und dreißiger Jahre enttäuschte: Zwar kam Valtin vor, aber nur als "unsichere Quelle". Das Wenige, das man habe überprüfen können, sei teilweise richtig, Anderes stimme nicht. So lange der Zugang zu den einschlägigen Archiven gesperrt sei, so die einhellige Meinung, seien Krebs´ Behauptungen nicht endgültig zu überprüfen.1990, als das Archiv der SED plötzlich geöffnet wurde, machte ich einen eigenen Versuch, mehr über den geheimnisvollen Autor von Tagebuch der Hölle zu erfahren. Seinen Angaben nach war er von Hamburg aus international tätig gewesen, hatte sich nach Hitlers Machtergreifung anfänglich am dortigen Widerstand beteiligt, bis er zu wichtigeren Missionen ins Ausland abberufen wurde. Ende 1933 schickte Ernst Wollweber, der spätere Leiter der Staatssicherheit der DDR, ihn auf ein Himmelfahrtskommando nach Deutschland zurück, wo Krebs prompt festgenommen und zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde.Im Parteiarchiv fand ich eine Reihe von Briefen, die Richard Krebs´ Hamburger Genossen nach Hitlers Machtergreifung an die Parteileitung im Ausland geschickt hatten. Anfangs enthielten die Schreiben noch Klarnamen, später wurde immer mehr verschlüsselt, und 1935 hieß es nur noch beispielsweise 1 und 4 trafen sich in 6, ohne Hilfe zur Entschlüsselung der Angaben.Die Schreiben aus der Anfangszeit zeugen vom namenlosen Schrecken, den die Gestapo verbreitete. Es gab dringende Bitten, einen Einsatz im Ausland zu ermöglichen, und gegenseitige Verdächtigungen und Denunziationen. Sie zielten, indem man sich als besonders "gefährdet" beschrieb, ebenfalls auf eine "Ausreiserlaubnis" ab. Es gibt jedoch auch Zeugnisse von einem geradezu selbstmörderischen Mut.Der Schlüssel liegt in MoskauIn diesem verwirrenden Konvolut tauchte der Name Richard Krebs ein paar Mal auf, ohne dass sich daraus weitergehende Schlüsse hätten ziehen lassen. Auch später, als ich bereits an einem Buch über Krebs arbeitete und die Akten der KPD noch einmal durchforstete, fand ich nicht viel mehr. Wenn die Geschichte des Jan Valtin - er sei in der KPD nur einfaches Mitglied, aber international ein mit allen Vollmachten ausgestatteter Abgesandter der Zentrale gewesen - stimmte, dann war das auch kein Wunder, dann musste der Schlüssel in Moskau zu finden sein.Als ich das Archiv der Komintern 1995 zum ersten Mal aufsuchte, hatte ich zwei Veröffentlichungen über Richard Krebs im Gepäck, die widersprüchlicher nicht hätten sein können. Die eine stammte von dem Literaturwissenschaftler Michael Rohrwasser, die andere von dem Historiker Dieter Nelles. Rohrwasser war die Akten der Bremer Polizei durchgegangen, hatte das Hamburger Adressbuch überprüft und sich mit den letzten noch lebenden Zeitzeugen, darunter Krebs letzter Frau, in den Vereinigten Staaten getroffen. Insgesamt hatte Rohrwasser nur marginale Abweichungen zwischen Krebs Aufzeichnungen in Tagebuch der Hölle und dem wirklichem Leben seines Autors gefunden, ohne allerdings die bei Beendigung seiner Arbeit noch geschlossenen Archive in Ostberlin nutzen zu können.Dies hatte schließlich Dieter Nelles getan, und er fand weit mehr als nur marginale Widersprüche zwischen dem Tagebuch und den tatsächlichen Ereignissen. Aufgrund seiner Funde erledigte der Historiker den gesamten Inhalt des Buches als groteske Verschwörungstheorie und erklärte die Instrukteure und den von Krebs beschriebene Apparat als pure Erfindung. Aus den Akten der Gestapo schließlich schloss er auf eine Bona Fide Gestapotätigkeit des Richard Krebs.Mich überzeugte das nicht. Wie konnte Nelles aufgrund deutscher Akten Aussagen über eine Organisation machen, die von Moskau aus gesteuert wurde? Und wenn Krebs wirklich, wie in Out of the Night behauptet, die Gestapo an der Nase herumgeführt hatte, wie ließ sich dann seine Verpflichtungserklärung als Beweismittel heranziehen?Das Archiv in Moskau erwies sich als nur teilweise zugänglich. Alles, was mit den Geheimdiensten der UdSSR und Geheimoperationen der Komintern zu tun hatte, blieb verschlossen. Zumindest theoretisch. Denn das Wirken der Instrukteure und die Operationen der GPU waren für die Arbeit der Komintern zu wichtig, als dass sie sich in den Rechenschafts- und Kongressberichten, den unzähligen Briefwechseln über politische Streitigkeiten und Intrigen hätten völlig verschweigen lassen. Außerdem hatte ich nach einigen Besuchen so gute Kontakte, dass ich einige vollständige Personalakten zu lesen bekam, die normalerweise nur ohne die Schreiben der GPU herausgegeben werden.Insgesamt bestätigte sich das Bild, das Krebs von den Machtverhältnissen gezeichnet hatte. Seine eigene Bedeutung jedoch hatte er übertrieben, um Begebenheiten, die er nur vom Hörensagen kannte, als selbst erlebt behaupten zu können. Außerdem hatte er den für seine Karriere als Instrukteur wichtigsten Mann, einen Polen namens Alfred Bem, in seinem Schlüsselroman - aus Freundschaft und berechtigter Angst um dessen Schicksal in der Stalin-Ära - verschwiegen und seine Rolle Ernst Wollweber zugeschrieben.Und noch ein GeheimapparatBald stieß ich auf einen weiteren Geheimapparat, für den Krebs mittel- oder unmittelbar tätig gewesen war: Den OMS, den Kurier- und Nachrichtendienst der Komintern, der als Verbindungsapparat zwischen der Sowjetunion und den Bruderparteien in aller Welt operierte. Vor dem Aufkommen des interkontintentalen Flugverkehrs in den späten dreißiger Jahren waren Schiffe die einzige Möglichkeit, Waffen, Propaganda, Agenten und Geld zu verschicken. Aus außenpolitischen Gründen kamen sowjetische Schiffe für derartige Transporte nicht in Frage.Man verließ sich stattdessen auf ein Netz überzeugter Kommunisten in der Handelsmarine insbesondere Deutschlands und Skandinaviens, das mit erstaunlicher Pünktlichkeit blinde Passagiere und Kontrabande rund um den Globus beförderte. Um zu verhindern, dass jede kommunistische Aktion im Ausland auf die Sowjetunion zurückfiel, musste das Ausmaß der Kontrolle und Unterstützung der Bruderparteien um jeden Preis geheim bleiben. Außerdem galt es, einfachen Parteimitgliedern in aller Welt gegenüber zu verbergen, dass ihre nationalen Parteiführungen ab Ende der zwanziger Jahre nur mehr Marionetten der Komintern waren. Aus all diesen Gründen stand der OMS unter so strenger Geheimhaltung, dass es bis heute keine eigenständige Untersuchung über ihn gibtAls kommunistischer Seemann war Richard Krebs sehr früh mit dem OMS in Berührung gekommen und hatte eine Reihe von Aufträgen für ihn ausgeführt. Da er zwar Instrukteur war, jedoch nur einen relativ untergeordneten Rang bekleidete, ließ sich nur ahnen, von welcher Organisation er seine Geheimaufträge jeweils erhalten hatte. Dies allerdings verschwieg er seinen Lesern. In Tagebuch der Hölle ist lediglich vom sowjetischen Geheimdienst die Rede.Der DoppelagentSo ähnlich war es auch mit Krebs Tätigkeit als Doppelagent. Bis zu seinem Tod sollte er die Rolle, die er gespielt hatte, nie ganz durchschauen. War er bei seinem Übertritt in die Dienste der Gestapo, der zwar nicht in direktem Auftrag der GPU, doch mit Wissen und Billigung der Genossen erfolgt war, noch entscheidungsmächtig gewesen, so war er seit seiner Ankunft in Kopenhagen Mitte 1937 nur mehr Werkzeug Ernst Wollwebers, eines Mannes, den er wie keinen Zweiten erst bewundert und dann gehasst hatte. Wollweber war 1937 Führer einer Sabotageorganisation gegen die Schifffahrt der Achsenmächte, die Brände legte, Haftminen anbrachte und erst nach dem deutschen Einmarsch in die Beneluxländer zerschlagen wurde.Wie man den nach Hamburg expedierten Agentenberichten entnehmen kann, wurde Richard Krebs dazu benutzt, die Gestapo von Wollwebers eigentlicher Tätigkeit abzulenken und die Aufmerksamkeit der deutschen Geheimpolizei auf eine andere, der KPD abtrünnigen Widerstandsgruppe zu richten. Gleichzeitig wurde der Doppelagent völlig isoliert und von allen Interna der Komintern ferngehalten. Als sich Krebs aus Angst um seine Frau, die in Deutschland hatte zurückbleiben müssen und 1938 an den Folgen ihrer KZ-Haft starb, weigerte, die Doppelrolle weiter zu spielen, kam es zum Bruch.Das alles kann man heute, 60 Jahre nach diesen Ereignissen und zehn Jahre nach der Öffnung der einschlägigen Archive aus verschiedensten Quellen rekonstruieren. Den wichtigsten Fund, der beweist, dass Krebs die Gestapo von Anfang an hatte betrügen wollen, machte ich ganz zum Schluss in den National Archives in Washington: Es waren die letzten Briefe seiner Frau an ihn und zwei Postkarten seines Bruders, aus denen hervorgeht, dass Krebs geplant hatte, seine Familie mit Hilfe des Bruders unter den Augen der Gestapo aus Deutschland herauszuschmuggeln. Dieses wahnwitzige Unternehmen war die einzige Möglichkeit, seine Frau vor einer Rache der Gestapo zu retten, sollte sein Doppelspiel ans Licht kommen.Wäre es ihm geglückt, so hätte er - vielleicht - ein anderes Buch geschrieben. Ein Buch, in dem er Wollweber nicht zum Monster aufgeblasen und sich selbst nicht als selbstmächtigen Helden ohne Schatten erfunden hätte. Aber ein nicht nach dem bewährten Schwarz-Weiß-Muster verfasstes Buch wäre vielleicht auch kein Bestseller geworden, und ich hätte mich nie auf die lange Suche nach der wahren Geschichte des Richard Krebs begeben.Ernst von Waldenfels hat die Geschichte von Richard Krebs in Der Spion, der aus Deutschland kam. Das geheime Leben des Seemanns Richard Krebs, das kürzlich im Aufbau-Verlag Berlin erschienen ist, nachgezeichnet.
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