Obwohl derzeit viel von einer systemischen Krise die Rede ist, musste der Kapitalismus seit Beginn der Wirtschaftskrise 2008 kaum Federn lassen. Im Gegenteil: Sozialkürzungen und Privatisierungen gehen weiter. Gleichzeitig wird die angebliche Alternativlosigkeit des Neoliberalismus auf so breiter Front infrage gestellt, wie das lange kaum vorstellbar war. Wie alternativlos ist der Neoliberalismus in Zeiten der Krise wirklich, wie kann er bekämpft und welche Utopien können gegen ihn in Stellung gebracht werden? Diesen Fragen gehen einige Neuerscheinungen nach.
Eine eindeutige Definition von „Neoliberalismus“ gibt es nicht. Der vor allem von linker Seite kritisch benutzte Begriff umfasst ökonomische Theorien, Gesellschaftskonzepte und wirtschaftspolitische Stra
ische Strategien. Der Brüsseler Politologe Norbert Nicoll schlüsselt in seinem Band „Neoliberalismus – Ungleichheit als Programm die Entstehung der neoliberalen Agenda und ihrer erfolgreichen Implementierung im Alltag auf. 1938 taucht der Begriff das erste Mal auf einer Konferenz zur Erneuerung liberaler Ideen in Paris auf. Bis Mitte der siebziger sind neoliberale Ansichten Minderheitenpositionen, die mit den keynesianisch geprägten wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Nachkriegszeit kaum konkurrieren können. Erst mit der Krise der Siebziger, als in den USA und Europa das „deficit spending“ à la Keynes nicht mehr greift und in eine Stagflation führt, setzen sich neoliberale Ansätze durch.Nach Keynes folgte HayekStaatliche Lenkungsmechanismen sollten nun zugunsten des freien Marktes eingeschränkt, der Einfluss der Gewerkschaften zurückgedrängt werden. Gleichzeitig sollte Eigenverantwortung soziale Sicherungssysteme ersetzen. August von Hayek, wichtigster neoliberaler Theoretiker, wollte das neoliberale Projekt zivilgesellschaftlich durchsetzen. Nicoll sieht hier eine Parallele zu Gramscis Hegemoniekonzept. Während der den „organischen Intellektuellen“ als Vermittler politischer Inhalte sah, schwebten Hayek „second hand dealers in ideas“ vor, die in den Medien und im akademischen Bereich die politischen Kräfteverhältnisse verändern sollten.Der Neoliberalismus war aber auch Teil autoritärer und antidemokratischer Herrschaftsstrukturen. Chile, ebenso wie Argentinien, galt während der Militärdiktatur unter Pinochet als neoliberales Experimentierfeld. Hayek fungierte sogar als persönlicher Berater des faschistischen Diktators.In den westlichen Demokratien stehen vor allem Margaret Thatcher und Ronald Reagan für die Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik, die mit der Digitalisierung und Neustrukturierung der Arbeitswelt Anfang der achtziger Jahre einhergeht. Mit dem fordistischen Fließband erlebt auch die autoritäre Disziplinargesellschaft ihre Abwicklung. Entsprechend inszeniert sich der Neoliberalismus als Erneuerer und Befreier. Aus linker Sicht wurden die achtziger Jahre als konservativer Rollback bezeichnet. David Harvey spricht gar von einer Restauration, da in den USA die Einkommen des reichsten Hundertstels kurz vor der Jahrhundertwende wieder das Niveau der Vorkriegszeit erreicht hatten.Der neoliberale Diskurs ist weiterhin erfolgreich, wenn es darum geht, überkommene Werte über den Haufen zu werfen, bürokratische Bastionen zu schleifen. Das Individuum wird befreit von seinen gesellschaftlichen Fesseln (wie Geschlecht und Klassenzugehörigkeit) und betritt als Humankapital den Markt, dessen unsichtbare Hand alles regelt. „There is no such thing as society“, kommentierte das Margaret Thatcher, die außerdem mit dem Ausspruch „There is no alternative“ den unumkehrbaren Charakter dieser Epoche unterstrich, was 20 Jahre später in Fukuyamas These vom Ende der Geschichte gipfelte.Vieles ausprobierenDiese scheinbar alternativlose Realität, die ohne Utopien ihrer zukünftigen Geschichte beraubt ist, bezeichnet der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher als „kapitalistischen Realismus“. Fisher bezeichnet damit „eine Art alles durchdringende Atmosphäre, (...) die unser Denken und Handeln einschränkt.“ Mit dem Essay Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? legt Fisher eine pointierte Analyse dieses Hegemoniekonzepts vor und fragt nach Möglichkeiten, das System auszuhebeln.Die Krise des Kapitalismus in seiner aktuellen neoliberalen Konfiguration sieht Fisher am deutlichsten versinnbildlicht im „irren, kafkaesken Labyrinth der Callcenter“. Die vermeintlich abgebaute Bürokratie erlebe im Zuge von ständigen Evaluationsmaßnahmen und Beratungstätigkeiten eine neue Blüte. Gleichzeitig steigere sich bei vielen Menschen die Unzufriedenheit in einem „System, das routinemäßig daran scheitert, seine eigenen Versprechen einzulösen, das von Ineffizienzen durchsetzt ist und Potenziale massenhaft vergeudet.“ Ein Zeichen dafür sei die massive Zunahme an Depressionen und Burnouts. Und diese psychischen Krankheiten gälte es zu repolitisieren.Der kapitalistische Realismus ist längst mutiert zur „zombifizierten Herrschaftsform“ (Fisher). Kein Wunder, dass popkulturelle Ikonen wie Buffy gegen diesen zombifizierten Kapitalismus zu Felde ziehen.Nur: Wie könnte eine wirkliche Alternative aussehen? Bini Adamczak und Guido Kirsten weisen in ihrem Aufsatz If … then … else aus einem Band der edition assemblage darauf hin, dass die revolutionären Umbrüche im 20. Jahrhundert sowohl 1917 als auch 1968 an der Peripherie begannen. Die Autoren sehen heute Parallelen in Nordafrika, Griechenland und Spanien. Gleichzeitig stellen sie fest, dass historische Umwälzungen immer mit einer Vielzahl von Faktoren zu tun haben. Das gilt für den Siegeszug des Kapitalismus ebenso wie für das Scheitern des Kommunismus.Dem neoliberalen Projekt verhalfen laut Nicoll die Ölkrise, mangelnde Produktivität, der Vietnam-Krieg, die beginnende Globalisierung und die einsetzende Digitalisierung zum Durchbruch. Eine globale Bewegung gegen Kapital und neoliberale Logik müsse sich ebenfalls aus mehreren Quellen speisen. Soziale Bewegungen wie Occupy allein könnten es kaum richten. Nicoll und Fisher sehen Parteien, Gewerkschaften und Stiftungen als mögliche Träger. Adamczak und Kirsten betonen, dass soziale Netzwerke eine Chance für alternatives Wirtschaften im Stil einer „commons based peer production“ sind, die Bedürfnisse befriedigen und neue soziale Verbindungslinien entstehen lassen. Es gilt vieles auszuprobieren, Altes wie Neues. Denn, wie Adamczak und Kirsten sagen: wir stehen „in einer Tradition utopischer Potenzialitäten, die unabgegolten auf ihre Realisierung warten.“