Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ So steht es im Grundgesetz. Dieser Verfassungssatz ist ein Grundprinzip der rechtsstaatlichen Demokratie. Er gehört zum Kitt der Gesellschaft. Denn nur ein für alle gleiches Recht kann auch von allen gleichermaßen akzeptiert werden.
Dieses Prinzip ist massiv gefährdet. Vor dem Gesetz sind in diesem Land eben nicht alle gleich. Es gibt welche, die sind gleicher und andere, die noch viel besser dran sind. Dies gilt besonders in einem Gebiet, in dem die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards so wichtig ist, wie bei keiner anderen Materie: im Strafrecht. Statt des rechtstaatlichen Grundsatzes „Im Zweifel für den Angeklagten“ gilt hier zunehmend: „Im Zweifel für die Reichen und Mächtigen.“
en.“Ein Beispiel: Zwei Jahre lang ermittelte die Staatsanwaltschaft in der so genannten Telekom-Äffäre. Die Telekom hatte Journalisten, Aufsichtsräte und Betriebsräte bespitzelt, um herauszufinden, wer bestimmte Informationen an die Presse gegeben hatte. Der Konzern spionierte dabei nach Erkenntnissen der Staatsanwälte zwischen 2005 und 2006 Telefonverbindungsdaten von mindestens 60 Personen aus. Im Juni 2010 klagte die Staatsanwaltschaft vier der zunächst acht Verdächtigten an. Die beiden Prominentesten ließ sie laufen: den ehemaligen Vorstandschef Kai-Uwe Ricke und den Ex-Aufsichtsratschef Klaus Zumwinkel. Die Anwälte der Geschädigten, Gerhart Baum (Bundesinnenminister a.D.) und Hertha Däubler-Gmelin (Bundesjustizministerin a.D.), kritisierten die Entscheidung scharf. In einer Pressemitteilung listen sie zahlreiche rechtliche Merkwürdigkeiten und Fehler bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auf. Sie kommen im Ergebnis zu einem völlig anderen Befund als die Staatsanwaltschaft. Ihrer Meinung nach hätte gegen Zumwinkel und Ricke Anklage erhoben werden müssen.Diesem Beispiel lassen sich problemlos weitere hinzufügen: Da wäre das Verfahren gegen Peter Hartz, der wegen einer Vielzahl von Fällen der Untreue und der Begünstigung eines Betriebsrats verurteilt wurde. Trotz einer Schadenssumme von über 2,5 Millionen Euro verhängte das Gericht lediglich eine Bewährungsstrafe. Oder der Prozess gegen Josef Ackermann im Zusammenhang mit der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone. Es ging um über 111 Millionen Mark, die unter dem Führungspersonal des Unternehmens verteilt wurden. Das wohl spektakulärste Wirtschaftsstrafverfahren der Nachkriegszeit endete mit der Auferlegung einer Geldbuße, nachdem der Bundesgerichtshof einen Freispruch kassiert hatte. Diese Summe konnte Ackermann bei seinem Einkommen aus der Portokasse bezahlen. Und da wäre der Ausgang des Verfahrens wegen Steuerhinterziehung im Fall von – wiederum – Klaus Zumwinkel. Dieser hatte in Liechtenstein eine Stiftung gegründet, deren einziges Ziel es war, den Steuerbehörden die Erträge aus seinem ererbten Vermögen zu verschweigen. Dabei häufte sich eine Steuerschuld von 3,9 Millionen Euro an. Zumwinkel kam ebenfalls mit einer Bewährungsstrafe davon.Klassenbewusstsein der RichterAll diese Fälle werfen eine Frage auf, die im Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ausgerechnet von der Financial Times gestellt wurde: „Warum sind eigentlich so wenig Banker hinter Gittern?“ Wer eine Antwort auf diese Frage finden will, muss sich zunächst einmal vor Augen führen, dass Banker und Manager nur selten wegen Gewaltdelikten wie Raub und Körperverletzung vor Gericht stehen. In der Regel geht es um Delikte aus dem Bereich des Wirtschaftsstrafrechts. Mit der Suche nach den einschlägigen Normen dieses Rechtsgebiets beginnt jedoch häufig schon das Problem für die Ermittler. Denn ein eigenes „Wirtschaftsstrafrecht“ gibt es nicht. Die einschlägigen strafrechtlichen Normen sind höchst unübersichtlich über zahlreiche Gesetze verteilt. Diese Paragraphen sind nicht nur extrem kompliziert formuliert, sondern auch in der Weite ihrer Formulierung schwer konkretisierbar. Auch Juristen finden sich in den oftmals auf Verweisungen gegründeten Tatbeständen in entlegenen Spezialvorschriften nur schwer zurecht. Vor allem ist es ausgesprochen schwierig, im Finanzmarkt mit seinen undurchsichtigen Transaktionen zu ermitteln. Hier fehlt den Staatsanwälten im Regelfall das notwendige ökonomische Wissen. So ist es kaum verwunderlich, dass Anklagen selten erhoben werden. Deshalb ist auch der Gesetzgeber gefragt. Die Straftaten, insbesondere im Kapitalmarktbereich, müssen dringend präzisiert werden. Dabei sollten auch Finanzgeschäfte, die Wettcharakter haben, grundsätzlich unter Strafe gestellt werden.Hinzu kommt, dass die Richter und Staatsanwälte häufig der gleichen akademischen Schicht wie die ihnen gegenüberstehenden Angeklagten entstammen. Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass der Verfolgungseifer bei Wirtschaftsdelikten geringer ist als etwa bei Gewaltdelikten. Dieses Phänomen lässt sich schon am Ton erkennen, der im Gerichtssaal herrscht. Der Ton gegenüber einem angeklagten Arbeitslosen, der sich nebenbei etwas Geld dazu verdient hat, ist oft im besten Fall rau, im schlechtesten jedoch arrogant und herablassend. Mit steigender sozialer Stellung des Angeklagten ändern sich Tonlage und Verhandlungsklima hingegen merklich.Schlechte Ausstattung, ErledigungsdruckLetztlich entscheidend sind aber weder die juristische Komplexität der Rechtsmaterie noch das ausgeprägte Klassenbewusstsein der Staatsanwälte und Richter. Denn mit ausreichend Zeit zur Vorbereitung und entsprechendem Engagement ist es auch für nicht spezialisierte Juristen – und um solche handelt es sich bei Staatsanwaltschaft und Gericht meistens – möglich, mit den Schwierigkeiten des Wirtschaftsstrafrechts einigermaßen klar zu kommen. Und nicht alle Juristen finden die Herren Zumwinkel und Ackermann sympathisch, nur weil sie es sich leisten können, im Anzug vor Gericht zu erscheinen. Ausschlaggebend für die unangemessene Milde, mit der die Justiz Wirtschaftskriminalität im Vergleich zur ganz gewöhnlichen Alltagskriminalität behandelt, ist etwas anderes. Seit Jahren ist die Justiz personell und sachlich schlecht ausgestattet. Zudem steht sie unter steigendem Erledigungsdruck.Dieser Druck wirkt sich jedoch völlig unterschiedlich aus, je nachdem, ob es beispielsweise um einen Bankraub oder Steuerbetrug geht. Bankräuber und Steuerbetrüger sind bereits real ungleich. Der Erste versucht, durch die Straftat Reichtum zu erlangen. Der Zweite möchte durch die Tat seinen Reichtum mehren. Der Bankräuber entzieht sich der sozialen Pflicht, sein Vermögen gesetzestreu zu verdienen. Der Steuerbetrüger stiehlt sich aus seiner sozialen Pflicht, zur Finanzierung des Gemeinwesens beizutragen. Beide Verbrechen sind grob asozial. Der Ermittlungsaufwand unterscheidet sich jedoch deutlich. Das Verbrechen des Bankräubers kann eine simple Überwachungskamera festhalten. Zur Tataufklärung genügt dann die Vorlage eines Videobandes. Ganz anders sieht es in Steuerstrafsachen aus. Für eine erfolgreiche Aufdeckung trickreich verschleierter Vermögenslagen und intelligent getarnter Geldwege bedarf es aufwändiger Ermittlungen. Aus der Not der Justiz entsteht ihre Neigung, dem Steuerverbrecher einen Handel anzubieten: Für seine Mithilfe bei der Aufklärung der Tat erhält er Strafmilderung – meist in Form einer Bewährungsstrafe – zugesichert. Dieser Deal beinhaltet eine Vereinbarung über einen Leistungsaustausch: Die Leistung des Angeklagten besteht im Verzicht darauf, die personelle Schwäche des Rechtsstaats erkennbar zu machen. Die Gegenleistung des Rechtsstaats besteht im Verzicht auf eine schuldangemessene Strafe. So wird das Strafgesetzbuch zum Handelsgesetzbuch.Der Handel mit der MildeEs ist paradox: Der wohlhabende Angeklagte sorgt mit der von ihm selbst zu verantwortenden hohen Komplexität der Tat für eine überforderte und genau deshalb milde gestimmte Justiz. Das einfach strukturierte Unterschichtendelikt des Bankraubs hingegen vermag diese Art der Milde niemals auszulösen. Zu seiner Aufklärung reichen die Mittel der Justiz allemal.Den Handel mit der Milde befördert der Umstand, dass Steuerverbrecher von Format wesentlich besser anwaltlich vertreten sind als Bankräuber. Die Zumwinkels dieser Welt leisten sich hochintelligente und bestbezahlte Meister der Strafverteidigung. Sie sind intellektuelle Kampfsportler in der Disziplin der Konfliktverteidigung. Diese Anwälte tragen den höchsten juristischen Dan, und sie signalisieren Verhandlungsbereitschaft. Sie wissen genau, dass man sich lieber vor ihnen verneigt, als mit ihnen zu kämpfen.Doch der Staat darf sich nicht verneigen. Wenn das Strafrecht für alle Menschen gleichermaßen gilt, muss ihnen dieses Strafrecht auch mit gleichen Maßstäben gegenübertreten. Strafe und Milde dürfen nicht zur Verhandlungsmasse werden. Sie stehen nicht zur Disposition weniger Wohlhabender. Es ist der Natur des Strafverfahrens fremd, dass der Angeklagte – nicht zuletzt wegen seiner überlegenen finanziellen Mittel – über den Ablauf und den Ausgang des Strafverfahrens maßgeblich mitbestimmt. Diese Macht gehört allein in die Hände des demokratischen Staates. Es ist deshalb unumgänglich, die Justiz angemessen auszustatten. Nur so lässt sich den Anforderungen des Gleichheitssatzes des Grundgesetzes gerecht werden.