Kein zweites Stammheim

NSU Das Verfahren gegen die rechtsextreme Terrorgruppe wird oft mit den RAF-Prozessen verglichen. Dabei gibt es deutliche Unterschiede. Die Rolle der Justiz ist eine andere
Ausgabe 18/2013
Begehrte Plätze im Saal 101 des Münchner Oberlandesgerichts. Aber es geht um mehr als den Streit zwischen Gericht und Medien
Begehrte Plätze im Saal 101 des Münchner Oberlandesgerichts. Aber es geht um mehr als den Streit zwischen Gericht und Medien

Foto: Jakob Berr/sz-Photo

Es kam, wie es kommen musste: Weil beim Losen nun mal das Glück regiert und nicht die Bedeutung, versagt das Oberlandesgericht München überregionalen Medien wie der taz oder der FAZ einen gesicherten Platz für die Berichterstattung über das NSU-Verfahren. Gleichzeitig gibt es eine Platzgarantie für einen Messespezialisten, das ein oder andere Stadtradio, das bislang vorwiegend durch seine Kleinanzeigen hervorgetretenen Wochenblatt Hallo München und die Brigitte-Redaktion.

Journalistenverbände und Presseunternehmen sind empört. Die Medienrechtler und Verfassungsspezialisten haben sich längst an die Arbeit gemacht, um erneut Karlsruhe anzurufen und die Verletzung ihrer Grundrechte zu beklagen. Das NSU-Verfahren verliert so schon vor dem ersten Verhandlungstag sein Thema: Statt um die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeklagten geht es in der öffentlichen Debatte zusehends um das Agieren des Gerichts selbst.

Nicht umsonst wird das Verfahren, in dem die Anklage von der Bundesanwaltschaft erhoben wurde, nach Paragraf 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes von einem Staatsschutzsenat verhandelt – ein Spruchkörper also mit einer Spezialzuständigkeit, die schon signalisiert, dass hier eine besondere Perspektive eingenommen wird. Das verleiht dem Verfahren das obrigkeitsstaatliche Gepräge, das gegenwärtig auf so viel öffentliche Kritik stößt, ohne dass der Grund dafür näher bezeichnet werden würde. Hier liegt auch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit zwischen dem Stammheimer RAF-Verfahren vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart und dem NSU-Verfahren.

Keine Zwangsverteidiger

Es gibt einige weitere Gemeinsamkeiten: der politische Hintergrund der Taten, die enormen Mengen des aufzuarbeitenden Aktenmaterials, das riesige öffentliche Interesse und das Bemühen, einen streng juristisch geführten Prozess vorzuführen. Dennoch macht es wenig Sinn, das Münchner Verfahren gegen den NSU und das Stammheimer Gerichtsverfahren gegen die RAF zu nah aneinander zu rücken. München ist schon vom äußeren Anschein her gerade kein „Stammheim gegen rechts“, wie die Zeit schreibt.

Das beginnt auf Seiten des Staates damit, dass im Vorfeld des Prozesses nicht die Strafprozessordnung geändert wird, um die Verteidigungsstrategie der Angeklagten zu erschweren. Auch gibt es keine Versuche, die Verteidiger der Angeklagten zu kriminalisieren, geschützte Gespräche zwischen Verteidigung und Angeklagten abzuhören oder die Verteidigung dadurch zu beeinflussen, dass gegen den Willen der Angeklagten Pflichtverteidiger bestellt werden, die faktisch als Zwangsverteidiger wirken mussten.

Das Stammheimer Verfahren wurde zudem gegen eine politische Gruppe geführt, die dem Staat und seiner Justiz den Kampf angesagt hatte. Das Gericht musste sich daher gegen den Vorwurf wehren, selbst Partei in diesem Konflikt zu sein – ein Vorhaben, das dem als befangen abgelehnten Vorsitzenden Richter Theodor Prinzing wenig überzeugend gelang.

Nebenkläger mit Aufklärungsinteresse

Dagegen ist die Konfliktlage im Münchner Verfahren eine gänzlich andere: Der NSU hat seinen Terror nicht gegen den Staat oder die Justiz gerichtet, sondern gegen Angehörige einer gesellschaftlich vielfältig diskriminierten Minderheit, die im Zuge der jahrelangen polizeilichen Ermittlungen eher weiter drangsaliert wurden, als dass ihnen oder ihren Hinterbliebenen geholfen worden wäre.

Anders als im Stammheimer Verfahren sind deswegen in München auch Nebenkläger und ihre Anwältinnen und Anwälte in großer Zahl aktiv, die durchaus ein anderes Aufklärungsinteresse haben, als es die Bundesanwaltschaft derzeit zur Schau trägt. Diese Konstellation gewinnt auch dadurch an Brisanz, dass im Münchner Verfahren zwei Angeklagte sich im Zeugenschutzprogramm des BKA befinden und die Verflechtungen zwischen V-Leuten der Inlandsgeheimdienste und dem NSU bereits parlamentarische Untersuchungsausschüsse beschäftigt haben.

Dass das Münchner Verfahren hier nennenswert Aufklärung verschaffen wird, ist allerdings kaum zu erwarten, auch wenn die Verteidigung der Angeklagten weniger offensiv politisch ausgerichtet sein wird, als es die Verteidigung im Stammheimer Prozess über weite Strecken war. Dort wurde nicht nur die Vernehmung von hohen NATO-Militärs und US-Politikern als Zeugen für den imperialistischen Charakter des Vietnamkriegs gefordert, sondern auch die Zuerkennung des Kriegsgefangenenstatus für die Angeklagten.

Erinnerung an späteren RAF-Prozess

Der Justiz im Stammheimer Verfahren kam es darauf an, sich selbst zu behaupten und einen im Kern politischen Prozess so zu führen, als richte er sich gegen Angehörige einer einfachen kriminellen Bande. Für das Verfahren gegen den NSU ist hingegen eine der zentralen Fragen, ob es den zahlreichen Nebenklägern und ihren Prozessbevollmächtigten gelingt, in dem Verfahren die aktive Rolle übernehmen zu können, die ihnen in der politischen Arena und in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Mordserie versperrt geblieben ist.

Paradoxerweise erinnert das Verfahren hier nicht so sehr an das Stammheimer Verfahren gegen die Gründerinnen und Gründer der RAF, sondern eher an den späten Prozess, der Verena Becker in Stammheim gemacht wurde. Damals ging Michael Buback, der Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, dagegen an, dass der Staat und seine Dienste die Aufklärung des Sachverhalts durch Zurückbehaltung und Sperrung von Material faktisch verhinderte.

Unbefriedigende Aufklärung

Was für ein Resümee ist vor Prozesseröffnung also zu ziehen? Das Münchner Verfahren ist zweifelsohne eines der ganz großen bundesdeutschen Strafverfahren. Gegenwärtig spricht wenig dafür, dass es die gesellschaftlichen Verhältnisse so prägen wird, wie das, was gegen die RAF-Begründer als Stammheimer Landrecht exerziert wurde. Das liegt vor allem daran, dass der zugrunde liegende gesellschaftliche Konflikt von ganz anderer Art ist, so wie der NSU mit der RAF weitaus weniger gemein hat, als die Rede vom „linken Terrorismus“ und dem „rechten Terrorismus“ glauben machen will. Diese suggeriert, hier gehe es um Ähnliches, nur dass die Opfer andere seien.

Allerdings spricht viel dafür, dass das Münchner Verfahren am Ende als gescheitert gelten wird, wenn auch auf andere Weise als das nicht zu einem Urteil gebrachte Stammheimer Verfahren gegen die RAF-Gründer. Das NSU-Verfahren kann wahrscheinlich keine befriedigende Aufklärung der angeklagten Taten, ihrer Hintergründe und ihres Zusammenhangs liefern und auch nur wenig dazu beitragen, dass die Nebenkläger ihren Frieden mit dem Rechtsstaat Bundesrepublik schließen werden.

Das hat das Verfahren dann mit anderen strafrechtlichen Großverfahren gemeinsam, die nicht so sehr im Fokus der Öffentlichkeit stehen, die aber auch deutlich machen, wie begrenzt das Strafrecht in heiklen gesellschaftlichen Konflikten wirkt. Erinnert sei hier an den Conterganprozess, der am 18. Januar 1968 gegen leitende Angestellte und den Eigentümer der Firma Grünenthal wegen Körperverletzung und fahrlässiger Tötung eröffnet und am 283. Verhandlungstag, dem 18. Dezember 1970 eingestellt wurde, damit die Opfer entschädigt werden konnten. In diesem Verfahren waren 312 Nebenkläger aktiv, ohne dass es ihnen gelungen wäre, die Umstände der Markteinführung und des Zurückziehens des Medikaments wirklich aufzuklären.

Wenn die Justiz politisch vermintes Gelände betritt, werden die Prozesse in Deutschland möglicherweise groß, was die Zahl der Verhandlungstage und der Aktenordner betrifft, möglicherweise auch groß mit Blick auf die Strafen. Groß im qualitativen Sinn, weil sie die Unabhängigkeit, den Aufklärungswillen und die Überzeugungskraft der Justiz unter Beweis stellten, erscheinen die Verfahren dagegen kaum jemals.

Oliver Tolmein ist Anwalt und freier Autor

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