Achtung, die Menschenwürde, (…) da kommt sie! Machen Sie ein Foto, schnell, bevor sie wieder weg ist“, rufen die orientierungslosen Gestalten an der Küste von Lampedusa, bevor sie noch eilig einen Schnappschuss mit dem Handy machen. Weit her ist es mit der Menschenwürde in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen wahrlich nicht: „Ausländerbrut“, „Menschenmissgestalten“ und „Niemande und Nichtse“ werden die Menschen, die vor der Festung Europa um Einlass ersuchen, in ihrem schonungslosen Theatertext genannt.
Entstanden ist das an Aischylos’ Tragödie Die Schutzflehenden angelehnte Stück im Herbst 2012, als eine Gruppe von Asylsuchenden die Wiener Votivkirche besetzte. Dort forderten sie – vergeblich –
ie – vergeblich – ihr Bleiberecht. In Deutschland ist das Schicksal der Hamburger Lampedusa-Flüchtlinge bekannter, die im Sommer 2013 in der St.-Pauli-Kirche unterkamen. Hier wurde vergangenen Herbst das Drama der Nobelpreisträgerin erstmals gemeinsam mit Schauspielern des Thalia Theaters gelesen.Nur die Verwertbarkeit zähltIn Mannheim hatte Nicolas Stemann, der oft mit Jelinek arbeitet und zuletzt ihr Rein Gold an der Bayerischen Staatsoper inszenierte, mit der Uraufführung der Schutzbefohlenen das Festival Theater der Welt eröffnet. Mit bitterbösem Sarkasmus stellt er die europäische Heuchelei in Sachen Flüchtlingspolitik in ihrer ganzen Hässlichkeit aus. Auch hier ist das Gotteshaus Dreh- und Angelpunkt: Über der Bühne ragen Leinwände in Form von Kirchenfenstern auf. Während unten der Chor der Asylsuchenden, der aus Schauspielern des Thalia Theaters und Mannheimer Migranten besteht, ohnmächtig gen Himmel um Schutz und Heimat fleht, erscheinen dort droben Slogans wie „Zusammen leben in Österreich“, „Grundlage, Prinzipien, Werte“. Die aufschimmernden Menschlichkeitsfloskeln aus Broschüren der EU und des österreichischen Innenministeriums bleiben in diesem Stück leere Worte, ungreifbar und fern der Realität der Klagenden.Wie so oft bei Jelinek ergehen sich die Figuren in kalauernden, doppelbödigen Suaden. Nur wer redet, kann sich seiner Lebendigkeit versichern. Indem Jelinek in ihrem Sprachgewebe immer wieder Vexierbilder des Kapitalismus mit humanistischen Idealen verknüpft, demaskiert sie die Bigotterie eines Europas, das von Integration spricht, aber Ausgrenzung aus ökonomischem Kalkül meint. Es gilt: Nur Verwertbarkeit schafft einen Wert. So wissen die Nomaden in Gottes einsamem Haus: „Wir sind kein Wert, wir sind außerhalb der Werte.“ Für die Dekadenz der politischen Realität findet Nicolas Stemann, der zu den interessantesten Vertretern des jungen deutschen Regietheaters zählt, eine klare Formsprache: Anfangs lässt er noch einen Gekreuzigten hilflos in der Luft baumeln, später teilt eine gigantische Stacheldrahtwand die Bühne in Vorder- und Hintergrund.Elfriede Jelinek, die 1946 im steirischen Mürzzuschlag geboren wurde, arbeitet sich seit jeher an den Macht- und Ausgrenzungsbastionen der jüngeren Zeitgeschichte ab. Minutiös legt sie den moralischen Morast unter der Patina der glücksbeseelten Alpenrepublik Österreich offen, der sich in den Stammtischparolen und im Rechtspopulismus der Gegenwart Bahn bricht. Die Aufführung lässt die Flüchtlinge jedoch nicht nur als bloße Opfer von Fremdenhass und Gewalt dastehen. Sie gibt ihren Anliegen auch buchstäblich ein Forum. Ergreifend ist etwa die Szene, in welcher der Flüchtlingschor an den Mikrofonen abwechselnd die Namen der Abgeschobenen im Rahmen der Wiener Kirchenräumung vorliest. Trotz dieses geschlossenen Auftritts bleibt ihre Position aber fragil, wenn nicht gar aussichtslos. Nachdem die Anklage der Hoffnungslosen wie so oft in Jelineks Stücken in einem weiten Echoraum verklungen ist, liegen sie vermummt zwischen Friedhofskerzen auf dem Boden, suchen sich zu verstecken und erinnern so unweigerlich an die anonymen Leichen im Meer vor der italienischen Küste.Wer sich nun jedoch allzu mitleidig einfühlt, wird schnell aus seinem Taumel befreit. Just tauchen aus der Stille Figuren in Ganzkörperanzügen auf, die Taschen, Handys, Diamanten und Ölfasser darstellen. Sie erzählen beschwingt, mit welcher Leichtigkeit sie als wertvolle Luxusgüter Grenzen zu überwinden wissen. Fröhlich geht es dann auch zu, als die Schauspieler des Thalia Theaters, darunter Thelma Buabeng, Ernest Allan Hausmann und Felix Knopp, kurzerhand die Seiten wechseln und als engstirnige Kleinbürger einen frohsinnigen Popsong anstimmen: Breit grinsend besingen sie ihren Zorn über die ohnehin parasitären Flüchtlinge, den „Barbarenschwarm“. In ihrem ganzen grotesken Irrsinn dürfte diese zynische Einlage so schnell nicht zu überbieten sein. Aus einer komplexen, auswuchernden Prosavorlage hat Stemann ein bestechend scharfes, polyfones Oratorium komponiert. Es erzählt von Österreich, und damit stellvertretend von Europa, „das sich wohlfühlt wie eine Sau, die sich wälzt in der Kuhle“, während darunter ein Abgrund klafft, aus dem kein göttliches Licht, sondern die schmerzliche Erkenntnis des Versagens dringt.