Königskinderbilder

Wissen Yael Reuvenys Dokumentarfilm „Schnee von gestern“ erzählt die Folgen der Shoah als unerhörte Familiengeschichte
Ausgabe 15/2014
Michla und ihr Bruder Feiv’ke
Michla und ihr Bruder Feiv’ke

Foto: Screenshot, Trailer

Familiäre Traumata wandern wie Erbkrankheiten durch die Generationen. Statt der Chromosomen sind Informationsträger dabei die Verhaltensweisen und Mythen, die die familiäre Überlieferung bestimmen. Für die kleine Yael in Tel Aviv waren das die Geschichten, die Großmutter Michla ihrer Enkelin erzählte: Geschichten von der Shoah, die sie scheinbar als Einzige der aus Wilna stammenden Familie überlebte. Darunter die einprägsame Anekdote von Michlas geliebtem Bruder Feiv’ke, den sie in den Wirren von Lagerhaft und Verfolgung einmal wieder gefunden zu haben meinte, um ihn kurz darauf nach einem missglückten Treffen am Lodzer Bahnhof an den Tod zu verlieren.

So jedenfalls wollte sie es glauben. Denn auch Feivusch hatte überlebt. Während Michla nach Palästina emigrierte, blieb ihr Bruder unter dem deutschen Vornamen Peter am Ort seiner letzten Gefangenschaft im brandenburgischen Schlieben und begann – neben den umfunktionierten Lagerbaracken – eine neue Existenz samt Karriere in der HO, die ihn zum angesehenen Vorgesetzten und Bürger des Örtchens machte. Grund für die Wahl war die Liebe zu einer Schliebener Frau, mit der er drei Kinder zeugte und großzog. Zu einer Annäherung der Geschwister kam es lange Jahre nicht. Ob sie vom Überleben des jeweils anderen wussten, ist unklar.

Sicher bekannt wurde Feiv’kes/Peters Geschichte dem israelischen Teil der Familie erst in den 1990er-Jahren, als Briefe von Sohn Uwe aus Cottbus in Tel Aviv eintrafen. Während Michlas Tochter (und Yaels Mutter) Esther dem Cousin heimlich zurückschreibt, trennt sich die Oma nochmals symbolisch von ihrem Bruder: Wenn er wirklich eine deutsche Nicht-Jüdin geheiratet habe, wolle sie mehr nicht wissen. Eine Familienkonstellation, die die Enkelin erst in Albträume treibt – und dann zu dem leidenschaftlichen Bemühen, sich der Vergangenheit auf eigene Faust zu stellen. Wie ihr Onkel geht die junge Filmemacherin nach Deutschland und zieht in eine Wohngemeinschaft in Berlin. Mit dabei ein einziges verbliebenes Foto der Großfamilie. Und der Wille, mit den eigenen auch den kollektiven Traumata auf die Spur zu kommen.

Ein weithin geglücktes Ergebnis dieser Recherchen ist Yael Reuvenys vielfach preisgekrönter Film Schnee von gestern, der unter dem passenderen Originaltitel Farewell, Herr Schwarz in seiner vielfach ineinander gespiegelten dokumentarischen Konstruktion kunstvoll zwischen kriminalistischer Recherche und nicht zu lösendem Mysterium oszilliert. Da gibt es eine komplementäre brandenburgische Fassung der Anekdote um das missglückte Lodzer Treffen, die inhaltlich in unlösbarem Widerspruch zu Michlas Version steht. Da sind die beiden noch lebenden Kinder von Peter Schwarz, die auf ihre Weise mit dem Schweigen des Vaters zu leben lernten. Und dann gibt es dort einen deutschen Enkel, den sich kein Spielfilmautor auszudenken gewagt hätte: Stephan entdeckt seine jüdischen Wurzeln und träumt vom Auswandern nach Jerusalem.

Schön ist, dass der Film in seinem tastenden Gestus auf klassische Entdeckungsdramaturgie verzichtet und die Spannung in den Situationen selbst sucht. Schade, dass manch emotionaler Moment von der eigentlich gelungenen Musik fast zugekleistert wird. Und der jugendlichen Naivität der Regisseurin entsprechend begrenzt sich der Blick doch auf die eigene Befindlichkeit.

So bleiben nicht nur Peter Schwarz’ zu vermutende politische Affinitäten zum jungen DDR-Sozialismus gänzlich unbelichtet. Auch die blondgelockte Frau, deren Reize den jungen Feiv’ke in der ostdeutschen Provinz bannten, erscheint als Rätsel, das der Filmemacherin keine Nachfrage wert ist. So sieht es fast danach aus, als wirke das großmütterliche Tabu unbewusst auch in Schnee von Gestern noch fort – auch wenn am Ende die israelischen Eltern vor dem Berliner Reichstag stehen.

Schnee von gestern Yael Reuveny D/Israel 2013, 100 Minuten

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