Konservatismus Angela Merkel betreibt Machterhalt auf Kosten des Profils der eigenen Partei. Das wird nicht länger gut gehen. Eine Analyse vier Wochen nach dem Schock von Stuttgart
Vier Wochen sind nach dem „Schock von Baden-Württemberg“ ins Land gegangen. Doch dafür, dass die CDU eine historische Niederlage zu verdauen hat, geht es in der Partei eigenartig ruhig zu. Sicher, Angela Merkel hat ordentlich einstecken müssen: kein Leitartikler, der sich nicht an der Kanzlerin abarbeitete, ihr Führungsschwäche vorwarf und sie, wie Jürgen Habermas, eines von „Demoskopie geleiteten Opportunismus“ zieh. Vor ein paar Jahren wurde ihr postideologischer, abwartend-szientistischer Politikansatz noch gelobt, auch weil er sich vom krawalligen Schröder’schen Basta-Ton wohltuend unterschied. Heute wirkt er wie aus der Zeit gefallen. Dennoch hat Merkels machtpolitische Position bislang keinen Schaden genommen. Im
Im Gegenteil, sie steht in der CDU stärker da denn je und scheint entschlossen, die aktuelle Kritik – ganz nach dem Vorbild Helmut Kohls, nur ohne den Dauerzoff mit Journalisten – auszusitzen. Doch dies wird auf Dauer nicht reichen, weil die Union im sechsten Jahr der Merkel’schen Kanzlerschaft ein grundsätzliches Problem hat. Die Partei steckt in der Identitätskrise. Dort hinein hat ausgerechnet die Parteichefin sie geführt – ohne ihr einen Ausweg zu eröffnen.Dabei war die CDU einst die Volkspartei der Republik, die natürliche Regierungspartei. Dieser „Naturzustand“, prägend von Adenauer bis Kohl, ist nun selbst in den letzten Hochburgen Vergangenheit. Die Stärke der Union war zuletzt nur eine relative, sprich: der Schwäche der SPD geschuldet. Tatsächlich befindet sich die Partei auf Bundesebene seit zehn Jahren im 30-Prozent-Turm, fuhr 2009 das schlechteste Ergebnis seit 1949 ein. Keine andere Bundesregierung gelangte mit geringerer Unterstützung ins Amt als die schwarz-gelbe Koalition. So war denn auch das Wahlergebnis in Baden-Württemberg weder bloß lokale Momentaufnahme, noch allein Fukushima zuzuschreiben. Vielmehr ist es Ausdruck des strukturellen Problems der CDU: Im „Herbst der Volksparteien“ (Franz Walter) versteht die Union die Welt – genauer: die soziale Realität vieler Menschen – nicht mehr. Die Bundesrepublik befindet sich in einem strukturellen Wandel, den der Politikwissenschaftler Ronald Inglehart als „stille Revolution“ bezeichnet: Das Wertegerüst post-materialistischer Gesellschaften verschiebt sich weg von der Union, wird säkularer und ökologischer.Identität durch KommunikationAngela Merkel hat dies lange vor ihrer Partei erkannt, der CDU deshalb die Öffnung für gebildete, großstädtische Milieus verschrieben und dafür – wie bei Wehrpflicht, Zuwanderung oder Elterngeld – zentrale ideenpolitische Bastionen der Union geschleift. Nun verstehen viele Stammwähler die christlich-demokratische Welt nicht mehr, aber angekommen ist die CDU in den urbanen Milieus trotzdem nicht. Stattdessen wird sie als opportunistische Kanzlerinnen-Partei ohne verlässliche Leitlinien wahrgenommen.Instruktiv ist der Blick auf einzelne Wahlkreise in Baden-Württemberg: In ihren traditionellen Hochburgen hat die CDU immer noch Ergebnisse jenseits der 40 Prozent erzielt. Aber in urbanen Gegenden, wo sie primär auf „liberale“ Kandidaten setzte, hat sie Stammwähler nicht mehr ausreichend mobilisiert. Die altkonservativen Kräfte sind frustriert, neubürgerliche Bildungseliten in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe oder Freiburg wiederum wählen gleich das grüne Original. Das nur noch dem Namen nach „bürgerliche Lager“ – CDU und FDP – kam bei Menschen mit Abitur und Hochschulabschluss nicht einmal mehr auf 40 Prozent.Warum? Weil es der Union an einem übergeordneten, integrativen Politik- und Wertemodell für eine christdemokratische Partei in einer zunehmend säkularen Gesellschaft mangelt. Der Psychologe George Herbert Mead hat postuliert, dass sich Identität nur durch soziale Interaktionen und somit durch Kommunikation formen kann. Einen parteiinternen Diskurs, wie sich ihre Politik mit dem Wertegerüst der Union deckt, hat Merkel jedoch stets gemieden. Stattdessen hat die Kanzlerin der CDU ein irgendwie moderneres, aber eben auch beliebigeres Antlitz verliehen. Merkels Modernisierung der CDU – das ist kein inhaltlich begründetes, strategisches Projekt, sondern das Ergebnis taktischer Manöver und der Rekrutierung enger Mitarbeiter. Letztlich hat sie die Partei ihrer alten Identität beraubt, ohne ihr zumindest die Richtung hin zu einer neuen zu weisen.Dissonanz zwischen Kanzlerin und CDU-ChefinNun war die Union traditionell ein Sammelbecken verschiedener Strömungen und dem eigenen Selbstverständnis nach nie Programmpartei. Doch was sie einte, war mehr als der in Merkel personifizierte Anspruch, regieren zu wollen: die Selbstzuschreibung von Bürgerlichkeit und ihre christlich-konservativer Ausrichtung. Dieser wertegestützte Unterbau ist der CDU abhandengekommen. Und Merkel offeriert keine Alternative. Dabei ist ein solches Fundament unabdingbar, um große Transformationsprojekte wie die Energiewende meistern zu können. Dies bestätigt die Organisationstheorie. Nur ein Wertegerüst kann den Einzelpolitiken und -projekten Sinn verleihen; es möglich machen, sie mit langfristigen, übergreifenden Zielen zu verbinden; den abstrakten Nutzen von Veränderungen zu vermitteln, die nicht selten für den Einzelnen konkrete Belastungen mit sich bringen.Rot-Grün kam im Laufe der Schröderzeit die Stringenz verleihende Metaerzählung abhanden. Angela Merkel hatte nie wirklich eine. Aber Politik im Allgemeinen und Parteipolitik im Besonderen lebt von Ideen, Visionen und Werten – und vom demokratischen Streit darüber. Nur so entstehen Wettbewerb und Bindungen, nicht durch den Vollzug vermeintlicher Sachzwänge, durch eine Politik vorgezogener Demoskopie vor Landtagswahlen oder hektische Handlungssimulation danach.Kann Angela Merkel die CDU auch aus der Identitätskrise führen? Eine eindeutige Antwort lässt sich nicht finden, da sie von der Bereitschaft der Vorsitzenden abhängt, auf ihre Partei diskursiv zuzugehen. Denn bei Merkel herrscht eine ausgeprägte Dissonanz zwischen ihrer Führung als Bundeskanzlerin und als Parteivorsitzender. In ihrer Rolle als Kanzlerin setzt sie auf Koordination, Konsensfindung und Integration. Ihre Partei dagegen führt sie per declarationem – allerdings ohne Orientierung und ohne das Organisieren von Diskursen.Beides liegt ihr weit weniger als die nüchterne Analyse von Evidenzen, weshalb sie die Politikwissenschaftler Joachim Raschke und Ralf Tils eine „Kalkulationsmaschine“ getauft haben. Doch Führung in der Politik bedeutet mehr, als ein Amt zu erobern und zu verteidigen. Wer Politik auf technokratisches Management reduziert, beraubt sowohl eine Partei als auch eine Gesellschaft der Offenheit für Reorientierungen und der Möglichkeit des Konflikts darüber.Wenig deutet darauf hin, dass Merkel das Problem erkannt, geschweige denn eine Lösung dafür hat. Offenbar will sie ihren Stil brutalstmöglicher Empirie fortsetzen. Nur so ist zu verstehen, dass sie einen Ethik-Rat einrichtet, nachdem die atompolitische Kehrtwende bereits vollzogen ist. Doch jetzt den Austausch mit Kirchen, Umweltorganisationen oder Gewerkschaften zu suchen, nachdem der Ausstieg aus dem Ausstieg noch exklusiv mit den Lobbyisten der Stromkonzerne ausgehandelt wurde, das hat zu viel aktionistisches „Geschmäckle“, ist keine glaubwürdige Neuorientierung. Glaubwürdigkeit aber, das höchste Gut der Politik, ist die Summe aus zugeschriebener Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit. Merkel kann zwar nach wie vor mit einer hohen Kompetenzzuschreibung rechnen. Was unter ihrer Ägide systematisch gelitten hat, ist die Vertrauenswürdigkeit der CDU.Unangefochten und doch prekärIm Erfolg der Grünen manifestiert sich nicht zuletzt auch ein Protest gegen die Selbstabdankung demokratischer Politik, gegen die „Negation des Politischen“, wie sie die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe in Sachzwang-Politik und technokratischem Politmanagement sieht. Und es sind eben jene Grünen, denen sich die Merkel-CDU annähern muss. Denn im 30-Prozent-Turm verharrend, bleibt die Union sonst langfristig ohne Mehrheitsoption. Doch um das mit dem Moratorium zerschlagene Porzellan zwischen beiden Parteien wieder zu kitten, wird eine oberflächliche Neuausrichtung, wie sie David Cameron den Tories im Vereinigten Königreich verschrieben hat, nicht reichen.Der Althistoriker Christian Meier hat in seiner Beschreibung der „Ohnmacht des allmächtigen Diktators Caesar“ zwischen der „Macht in den Verhältnissen“ und der „Macht über die Verhältnisse“ unterschieden. Angela Merkel muss Erstere nutzen, indem sie sich der innerparteilichen Diskussion sowie der Reflexion über Werte wie „Nachhaltigkeit“, „Wohlstand“ und „Konservatismus“ stellt und ihnen damit Orientierungskraft verleiht. Ein „mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial“, wie es Merkel noch vor zwei Jahren propagierte, mag unter dem Gesichtspunkt des persönlichen Nutzenkalküls bislang aufgegangen sein. Merkels machtpolitische Position in der Partei ist unangefochten. Und dennoch, ob der Identitätslosigkeit ihrer Partei, zunehmend prekär.
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