Es ist gut, dass es dieses Buch gibt. Viel besser wäre, Michail Ryklin hätte es nicht schreiben müssen. Buch über Anna ist ein Buch über seine Frau, die Künstlerin und Dichterin Anna Altschuk. Als sie am 21. März 2008 in Berlin verschwand, als sie am 10. April dann aus der Spree gefischt wurde, war sie für die Zeitungen freilich weder die Künstlerin noch die Dichterin, sondern die „Kreml-Kritikerin“ Anna Altschuk. Damit schnurrte ihr Leben im Tod auf eine Episode zusammen, auf eine Rolle, auf die sie es nicht angelegt hatte, auf ein Ereignis, in das sie gegen ihren Willen geriet. Diesen Triumph wollte der Philosoph Michail Ryklin den reaktionären Kräften in Russland nicht gönnen. Buch über Anna ist nicht zuletzt d
t der Versuch, dieses einseitige Bild um all die Dimensionen und Schattierungen zu ergänzen, die auch zum Leben der Anna Altschuk gehören.Es ist ein persönliches Buch über eine persönliche Tragödie: Ein Mann verliert die Frau, mit der er über dreißig Jahre verheiratet war, mit der ihn ein fast symbiotisches Verhältnis verband. Im kurzen Vorwort schreibt Ryklin: „Akademisch geschult, sträubte ich mich nach Kräften gegen die verführerische Anziehung des Unmittelbaren, des Spontanen und anderer Erscheinungsformen der Trauerarbeit, bis ich ihrem Druck schließlich nachgab.“ Dennoch ist dies viel mehr als ein bloß persönliches Buch. Ryklin, der dekonstruktive Philosoph, Kenner und Freund französischen Denkens, der scharfe Kritiker des immer autoritäreren Russland, sieht Leben und Tod seiner Frau unlösbar mit den Entwicklungen von Politik und Gesellschaft in Russland verknüpft.Achtung, Religion!Buch über Anna schließt damit recht unmittelbar an Ryklins viel besprochenen Band Mit dem Recht des Stärkeren aus dem Jahr 2006 an. Auch das war schon etwas anderes oder jedenfalls mehr als ein akademisches Buch aus dem Geist der poststrukturalistischen Kulturphilosophie gewesen. Ryklin hatte darin im Grunde mit seiner Heimat gebrochen, er verglich das Russland der Gegenwart mit dem präfaschistischen Bayern, das Ludwig Feuchtwanger in seinem Roman Erfolg schildert. Dass Ryklin, ein Wanderer zwischen den Welten, Russland in Richtung Westen verlassen würde, schien unvermeidlich. Im Jahr 2007 zog er dann dauerhaft nach Berlin, ins Exil, seine Frau mit ihm.Dieser Bruch vollzog jenen Bruch, den das Verhältnis von Anna Altschuk und ihrem Mann zu Russland erlebt hatte, nur nach, machte ihn äußerlich. Es war jedoch ein Bruch, der bis weit ins Psychische reichte, ein nicht mehr zu kittender Riss und damit einer der Gründe für den Suizid Anna Altschuks.In Zentrum von Mit dem Recht des Stärkeren stand der Schauprozess gegen einige Macher und Beteiligte der Moskauer Ausstellung „Achtung, Religion!“ im Jahr 2005. Zu den Angeklagten gehörte Anna Altschuk, sie war mit einer Arbeit in dieser Ausstellung vertreten. Die Anklage, die allen Regeln des Rechts spottende Prozessführung, der vom Gericht geduldete, ja gewünschte Aufmarsch orthodoxer Fanatiker – all das hat Ryklin in Mit dem Recht des Stärkeren als eine Erfahrung beschrieben, die ihn, aber noch viel mehr seine Frau trotz des letztlichen Freispruchs traumatisierte.Er schilderte darin eine Episode, die sehr direkt auf das neue Buch vorauszuweisen scheint: Anna Altschuk erleidet einen hysterischen Anfall. Er ist am nächsten Morgen vorüber, wird von den Ereignissen des Frühjahrs 2008 her jedoch als eines der Signale erkennbar, die erst im Nachhinein ihre schreckliche Bedeutung enthüllen.„Tod in Berlin“ ist der Titel des ersten Kapitels von Buch über Anna. In allen Details schildert Ryklin darin das Geschehen vom plötzlichen Verschwinden seiner Frau bis zum Fund der entstellten Leiche zwei Wochen später. Es war und ist nicht mehr eindeutig zu klären, ob es ein Suizid war oder vielleicht doch ein Mord wie im Fall der Anna Politkowskaja. Die Zeitungen tendierten mit dem fast zwanghaft verwendeten Epitheton „Kreml-Kritikerin“ in diese Richtung, Ryklin ist heute jedoch von der Selbstmordvariante überzeugt. Und weil sein „Buch über Anna“ so etwas wie die Durcharbeitung des psychischen Prozesses ist, der zum Geschehen im März 2008 führte, ist man es als Leser am Ende auch.Dass gerade er als Nächster die Signale nicht sah, dass die Frau, mit der er Tag für Tag zusammengelebt hat, vor seinen Augen, aber ohne dass er es merkte, verzweifelt sein muss, das kann sich Michail Ryklin auf der Ebene der Ratio zwar erklären – bestürzt ist er doch. Der Text ist nicht zuletzt Rechenschaft über seine persönliche Bewusstwerdung; die Niederschrift war ihm, wie er schreibt, anders als bei seinen bisherigen Büchern erst nach einem langen „Reifeprozess“ möglich. Es ist auch der Versuch der Therapie und Trauerverarbeitung, Wiederholung, Erinnerung und Durcharbeitung in einem fast schon strengen psychoanalytischen Sinn. Buch über Anna ist so das Ergebnis der heraufbeschwörenden Relektüre der letzten gemeinsamen Jahre und die Anamnese der Tat als verzweifelte Ausflucht aus einem Leben, das Anna Altschuk als nicht mehr zu kitten wahrnahm.Die Annäherungen und Zugänge sind vielfältig: Zunächst recht konventionell biografisch, auch autobiografisch. Ryklin sieht der Vergangenheit ins Gesicht. Bezeichnend ist schon, dass er darauf bestand, nach dem Tod seiner Frau in der gemeinsamen Wohnung weiterzuleben: „Acht Monate lebte ich in der Wohnung, aus der Anna wegging, schlief in dem Bett, dessen eine Hälfte, die ihr gehörte, bezogen, unberührt blieb. Ich aß, las, arbeitete, badete. Dort wollte ich auch das Buch über Anna in Angriff nehmen.“ Vor allem aber stützt sich Ryklin nicht allein auf seine persönlichen Erinnerungen, sondern auf Texte von Anna Altschuk, aus denen sie ihm teilweise vorgelesen hatte, die er zum großen Teil aber erst nach ihrem Tod zu sehen bekam: ihre Tagebücher und die systematischen Aufzeichnungen ihrer Träume.Trauma und PsychoanalyseEs geht Ryklin bei seinen Deutungen dieser Texte natürlich nicht um das Ausplaudern von Intimitäten. Eher sieht er, psychoanalytisch inspiriert, in den Sprache gewordenen Gedanken und Träumen ein Moment der Objektivierung, eine paradoxe Form der Distanzierung im Intimsten auf dem Um- oder Königsweg über das Unbewusste. In einem früheren Buch, Räume des Jubels, hat er sich auch sich selbst schon einmal ähnlich genähert, indem er seine Träume von Stalin analysierte. Was immer man von den Behauptungen der Psychoanalyse hält: Diese paradox distanzierende Annäherung hat etwas Schlagendes. Hier ist nämlich das Privateste mit Politischem, Durchschautes mit Undurchschautem, Persönliches mit Kollektivem zwar deutbar, aber nicht endgültig entwirrbar verknäult.Gerade auf die Schnittstellen zwischen diesen Bereichen (und nicht auf so etwas wie ein banales Psychogramm Anna Altschuks) kommt es Ryklin an. Nicht die Analyse, also die Trennung der Bereiche, ist der eigentliche Punkt, sondern der stete Verweis auf die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Affekte und Impulse, auf die Prägungen des Persönlichen durch das Kollektive – und dann auch wieder auf quer zu allem stehende Idiosynkrasien. Das faszinierendste Kapitel ist dabei jenes über die geradezu romanhaft unwahrscheinliche Freundschaft Anna Altschuks mit einer erfolgreichen und unpolitischen russischen Geschäftsfrau. Die wird mit ihrem ganzen Geld zur sensiblen Poetin und unterhält einen florierenden Moskauer Salon, in dem schon mal Speisen aus den Romanen der Weltliteratur aufgetischt werden.Gerade als westlich orientierte, aber doch bis ins Innerste russisch geprägte Außenseiterin im Russland der Putin-Jahre wird Altschuk in Ryklins Schilderung exemplarisch. Sie flieht das Land, ihre Heimat, in der sie es nicht mehr aushält. In Berlin aber kommt sie nie richtig an. Sie wahrt erfolgreich den Schein. So wird die Wahrheit für Ryklin erst vom Tod Anna Altschuks aus sichtbar. Die Nachträglichkeit dieser Einsicht ist fraglos tragisch. Michail Ryklins „Buch über Anna“ ist ein schonungsloses Erinnerungsbuch, aber auch ein Denkmal für seine Frau, das umso beeindruckender ist, als es den Schatten nicht weniger deutlich präsentiert als das Licht.
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