Land-Hukou gegen Stadt-Hukou

China In der Provinz Sichuan sollen Wanderarbeiter nicht mehr wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Besonders Ge Honglin, Bürgermeister von Chengdu, setzt sich dafür ein

Chengdus Bürgermeister Ge Honglin genießt die Aufmerksamkeit, die seine Stadt gerade erfährt. Seit die Zentralregierung dem rückständigen Westen des Landes ein Wachstumsprogramm verordnet hat, gilt die Hauptstadt der Provinz Sichuan mit ihren 14 Millionen Menschen als Motor einer küstenfernen Modernisierung. Dass Chengdu derzeit die nationalen Medien interessiert, ergibt sich freilich weniger aus seinem Produktionsplus von 15 Prozent im Jahr 2011. Vielmehr ist Bürgermeister Ge Honglin dabei, eine Grundfeste der chinesischen Gesellschaft zu schleifen, die bislang noch allen Reformversuchen trotzte: das staatliche Meldesystem (Hukou) – ein Relikt aus der Ära Mao Zedong.

Bis heute ist es der Landbevölkerung untersagt, ohne behördliche Erlaubnis in eine Stadt zu ziehen. Folglich fristet eine Mehrheit der etwa 200 Millionen Bauern, die bisher ihre Dörfer verlassen haben, in den Städten ein Dasein abseits der Legalität. Diese Arbeitsnomaden leben in Massenunterkünften oder auf Baustellen, auf denen sie für magere Löhne schuften. Selbst diejenigen, die ein befristetes Aufenthaltsrecht ergattern, bleiben Bürger zweiter Klasse und von wohlfahrtsstaatlicher Grundversorgung ausgeschlossen. Der Zugang zur Gesundheitsfürsorge ist ihnen ebenso verwehrt wie der Schutz bei Arbeitslosigkeit oder das Recht, die eigenen Kinder auf öffentliche Schulen zu schicken.

Privilegien der Städter

Geht es nach Bürgermeister Ge Honglin, soll es mit solcher Stigmatisierung in Chengdu vorbei sein. „Mit der Reform des Meldesystems wird die rechtliche Ungleichheit zwischen Städtern und Landbevölkerung komplett beseitigt“, meint Ge. Dadurch sollen die etwa 2,5 Millionen Zuwanderer, die momentan ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus in der Stadt leben, ermutigt werden, sich als Bewohner mit allen Rechten registrieren zu lassen. Zugleich entfallen für 4,8 Millionen Menschen, die an der ländlichen Peripherie Chengdus wohnen, alle Barrieren, die sie bislang an einer Übersiedlung in die Stadt hinderten. Sie alle könnten sich um eine der 57.000 Sozialwohnungen bewerben, für die allein 2011 der Grundstein gelegt wurde. Mit alldem katapultiert sich die Stadtregierung an die Spitze einer landesweiten Reformbewegung, die wachsenden Unmut über das Meldesystem auffangen will. „Wir rechnen mit mehr Zuwanderung, so dass die städtischen Sozialsysteme strapaziert werden“, räumt Professor Chen Jiaze ein, Vizepräsident der Akademie für Sozialwissenschaften in Chengdu. Schon jetzt artikuliert sich in Internet-Foren das Unbehagen vieler Städter, die Privilegien schwinden sehen, müssen sie künftig Ressourcen mit den Zugezogenen teilen. Etwa, wenn deren Kinder in städtische Schulen drängen.

Nomade und Betriebswirt

Um einem Massenansturm vorzubeugen, setzt man auf die Urbanisierung der ländlichen Räume. Zweistellige Milliardenbeträge investiert Chengdu dafür jedes Jahr. Mit dem Geld werden nicht allein Industrieansiedlungen und Straßenbauten gefördert, es fließt auch in den Bau von Kindergärten und Schulen sowie ein modernes Gesundheitssystem in Dörfern und Kleinstädten. Der 35-jährige Luo Jun hat die Chancen, wie sie eine industrialisierte Seelsorge bieten kann, bereits genutzt. Im Industrie-Park für Firmen der Lebensmittelbranche in Ande – 40 Kilometer nordwestlich von Chengdu – hat der Wanderarbeiter und Betriebswirt eine Stelle in der Soja-Fabrik von Unternehmensgründer Lü Jinhua gefunden. Er lebt in einer vom Betrieb angebotenen Unterkunft, das sei viel billiger als eine Mietwohnung in Ande oder das Leben in der Megastadt Chengdu, rechnet Luo vor. Er könne von den 3.500 Yuan (405 Euro), die er im Monat verdiene, einiges zur Seite legen. Bürgermeister Ge hofft, dass viele Bauern dem Vorbild von Luo folgen. Sechs der 21 industriellen Entwicklungscluster, die Chengdu finanziert hat, wurden daher in ländlichen Regionen angesiedelt.

Ob die Bauern nun in Scharen ihr Land-Hukou gegen das Stadt-Hukou eintauschen, hängt wohl auch davon ab, wie der Umgang mit Bodenbesitz in der Volksrepublik geregelt wird. Da es sich um Kollektiveigentum handelt, dürfen die Bauern ihre Äcker weder beleihen noch privat verkaufen. So fehlt es ihnen oft am nötigen Geld, um sich auf Dauer in der Stadt niederzulassen. Andere zögern bei dem Gedanken, ihr Land endgültig aufzugeben. Bislang bot es vielen Wanderarbeitern die Gewissheit, zurückkehren zu können, sollte der Arbeitsplatz in der Stadt verloren gehen.

Werner Girgert ist Journalist und Soziologe

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