Lauschangriff 12/03

Kolumne Es gibt Klassikstars, die wollen keine Klassikstars sein. Anner Bylsma ist so einer. Aber die Marketingabteilungen der Plattenmultis haben natürlich ...

Es gibt Klassikstars, die wollen keine Klassikstars sein. Anner Bylsma ist so einer. Aber die Marketingabteilungen der Plattenmultis haben natürlich längst schon auch Bescheidenheit, Zurückhaltung oder Nonkonformismus als verkaufsfördernde Qualitäten ausgemacht. Bylsma hat das durchschaut und im Lauf seiner Karriere auch die neunmalschlausten unter seinen Verwertern abgehängt. Inauguriert als jüngster Solocellist aller Zeiten beim Amsterdamer Concertgebouw Orkest, hielt es ihn in dem weltberühmten Ensemble nur sieben Jahre. Er hasst nämlich die Dirigenten, er lässt sich nichts sagen, er weiß es sowieso besser. Er liebt das Individuelle, das Intime. "Ich muss Blickkontakt haben", sagt er und empfindet das Intime witzigerweise auch demokratischer als das Kollektiv. Den intimsten Blickkontakt hat er mit sich selbst und am innigsten, wenn er in den Urgrund und das Allerheiligste aller Cellomusik abtaucht, Bachs sechs Suiten für Solocello. Anner Bylsma hat sich das Autograph angesehen. Es ist von der Hand Anna Magdalenas, der zweiten Frau Bachs, die dessen Urschrift abgeschrieben hat. Alle Welt ist sich einig: Weil sie keine Streichinstrumente spielte, sondern nur Cembalo, hat sie viele Stricharten falsch kopiert. Aber da widerspricht Bylsma. "Nur eine Ehefrau, die alles genau so machte, wie es ihr Gatte wollte, kam damals in den Himmel", sagt er. "Darum hat sie alles korrekt nachgebildet" - und er hat es exakt so eingespielt, wie sie es nachgebildet hat.

Das Besondere an Bylsmas Spiel ist sein Ton, der so gut wie ohne Vibrato auskommt. Bylsma folgt darin keinem Dogma, nur seiner allem Imponiergehabe fernen Natur. Er gibt dem Ton auf seine Weise Klang, Rundung, Raum und jene geheimnisvollen Farben, in denen das Leben leuchtet. Er hasst die von allen Macken und Kratzern der Materie befreite Perfektion des Digitalzeitalters. Bylsma erzählt Geschichten, wenn er Bach spielt, streng und klar akzentuiert, aber voller Wehmut und Versonnenheit; er erzählt von den Wandlungen des Tons, vom langen Nachhall eines Gedankens, er spielt und zaubert (Vivarte/Sony Classical S2K 48047).

Anner Bylsma wandte sich, als er das Concertgebouw Orkest 1968 verließ, nicht nur ab vom Glanz des Solistendaseins (Ausnahme: die Bachsuiten); er spielte fortan - und das war Ende der sechziger Jahre dissidenziell - nur noch auf Darmsaiten und gehörte ergo mit Musikern wie Nikolaus Harnoncourt oder Gustav Leonhardt zu den Pionieren der historisierenden Aufführungspraxis. Die beiden anderen sind heute weltberühmt. Anner Bylsma aber kennen nur die Cellisten, was ihm recht ist. Er ist ziemlich klein von Gestalt, und er misstraut großen Männern.

Zusammen mit seiner Frau, der Geigerin Vera Beths und dem deutschen Bratscher Jürgen Kussmaul hat er die Streicherformation L´Archibudelli gegründet. In kleinerer und größerer Besetzung hat die vom Barock bis zur klassisch-romantischen Tradition fast alles aufgenommen, was gut und teuer ist an Kammermusik mit Cello, beispielsweise und zusammen mit dem belgischen Hammerflügelspieler Jos van Immerseel die sehr pointiert und forsch, aber auch voller Seele und Witz genommenen Beethoven-Sonaten für Cello und Klavier (Vivarte/Sony Classical S2K 60761). In Mozarts unvergleichlichem Divertimento für Streichtrio meistern Bylsma und seine Leute vollblutmusikalisch die komplizierte Stimmführung, derer sich die kühl kalkulierte Volkstümlichkeit dieses Wiener Klassikers bedient bei der Inszenierung ihrer Seelendramolette (Vivarte/Sony Classical SK 46 497). Oder sein Schubert, die beiden Trios (SK 62 695), das Forellenquintett, zusammen mit der Arpeggione-Sonate (Vivarte/Sony Classical SK 63 361) und vor allem das C-Dur Quintett, dessen geigerischer Adagio-Gesang hier dargeboten wird mit dem unergründlichen Charme eines Menschen, der sein Zagen und Zaudern nur in den Exzessen der Arbeit überwindet (Vivarte/Sony Classical SK 46 689).

Oft und gern greift Bylsma zu seinem Cello Piccolo, einem kleinen fünfsaitigen Instrument, dessen Ton fast so hell klingt wie der einer Bratsche, auf dem er eine der Bachsuiten spielt und in dem er sich offenbar wiederfindet. "Ich besitze es, seit ich 17 bin", sagt er. "Es hat etwas Ohnmächtiges, als ob es sich nicht helfen kann, das finde ich schön".

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