Leipziger Buchpreis Alljährlich sind neben Romanen und Übersetzungen auch fünf Sachbücher nominiert: "Gruppe 47", "Faces", "Gekaufte Zeit", "Die Belasteten" und "Der aufrechte Gang"
Das bisher interessanteste und plastischste Buch über die legendarisierte Gruppe 47 und den damaligen Literaturbetrieb ist hier schon vorgestellt worden: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb von Helmut Böttiger (Freitag, Nr. 3 v. 17. 1. 13). Es ist ein veritables Stück Literatur- und auch Kulturgeschichte der Bundesrepublik (alt), geht mit der Literatur höchst kenntnisreich, mit der Bundesrepublik allerdings etwas vorurteilsgepanzerter um, als es sein müsste.
Von der Steinzeit-Maske bis zum Cyberface
Hans Belting, einer der großen alten Männer der Bildwissenschaft, hat unlängst nicht nur den historischen Fluchtpunkt der neuzeitlichen Zentralperspektive verschoben, nämlich von Florenz nach B
ve verschoben, nämlich von Florenz nach Bagdad, sondern auch die physische Präsenz des Betrachters als deren Voraussetzung betont. Um physische Präsenz geht es auch in Faces. Eine Geschichte des Gesichts. Der Fluchtpunkt aller bildlichen Menschendarstellung, das Gesicht, erscheint uns, abbildlich fixiert, als Maske. Wogegen die Vorstellung von der Lebendigkeit rebelliert. Von den Masken der Steinzeit über Theatermasken und schauspielerische Mimik, Porträt, Film, Fotografie und Abstraktion bis hin zu referenzlosen Cyberfaces durchmustert Belting die Geschichte der Gesichtserfassung und deren Spannung zu Leben und Selbst. Ganz bestimmt ein grundgelehrtes Buch, aber wohl auch ein endloses Spiegelkabinett der Einfallswinkel.Der Pfad der AbhängigenSo schritt der Europäer zuletzt voran: Auf den Fiskalstaat folgte der Schuldenstaat und auf den der Konsolidierungsstaat. Nach Vico müsste nun der Steuerstaat auf höherer Ebene wiederkehren. Auch ein bisschen so nach Streeck in Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, selbst wenn der – in seiner ursprünglichen Adorno-Vorlesung – von Dialektik spricht. Am Ende muss es die Demokratie richten. Der Kapitalismus hat sich Zeit gekauft, am liebsten mit Geld, das er sich hat drucken lassen. Im Moment machen das Herr Draghi und Herr Bernanke für uns. Denn wir befinden uns in der Phase der Konsolidierung. Die ist nötig, meinen diejenigen, die den Schlamassel zuvor anrichteten, indem sie zum Beispiel den Euro in heterogenen Volkswirtschaften eingeführt haben, ohne abzuwerten, aber auch ohne die Nationalstaaten und deren Demokratien abzuschaffen: Sie befreit zwar nicht vom Druck der Finanzmärkte, aber hilft den Regulatoren zu weiterer De-Demokratisierung. Ansonsten reicht das Geld möglicherweise gerade, um sich die einstweilige Loyalität der südeuropäischen Apparatverwalter zu erkaufen. Erkauf und Verkauf von Zeit: Aufschub.Walter Benjamin hat den Kapitalismus als Religion der Verschuldung bezeichnet. Da gibt es kanonisch auch Ablasshandel, zum Beispiel „Rettung der Gläubiger durch Rettung der Schuldner“. Streecks Buch ist eine nüchterne, klare und – nur allzu – nachvollziehbare historisch-genetische Darstellung des Pfads der Abhängigen, auf dem wir bis hierher gekommen sind. Doch die Lösung, wenn es denn überhaupt noch eine demokratische gibt, wäre: „Zeit gewinnen“. Kriegt man aber nicht beim Fernseh-Quiz, sondern muss man erkaufen. Und solange der Aufschub zu kaufen ist, wird die Demokratie nicht gewinnen. Wetten?Gegen das VergessenIn Zeiten geradezu manisch kosmetischer, chirurgischer bis genetischer Selbstoptimierung an den Vernichtungszynismus zu erinnern, der seinerzeit aus dem Eiferertum der Euthanasie entstand, an das, was euphemisch „Lebensunterbrechung“ oder „schmerzlose Abkürzung des Lebens“ genannt wurde, ist eine Aufgabe, der sich Götz Aly gewidmet hat. Der Klappentext von Die Belasteten: >Euthanasie< 1939 – 1945 rechnet vor, dass von den erwachsenen Deutschen heute jeder achte direkt mit einem Menschen verwandt ist, der im Jahr fünf vor der Befreiung wegen psychischer Erkrankung, „Asozialität“ oder körperlicher und geistiger Behinderung ermordet wurde.Götz Aly, der selbst eine behinderte Tochter hat, hat sich immer wieder, nun über 30 Jahre lang, dem Thema der Ermordung Behinderter gewidmet. Über 200.000 waren es zwischen 1939 und 1945. Aly setzt sich mit den zugrundeliegenden Denkweisen ebenso auseinander wie mit der Erfassungsbürokratie und der Ablaufmechanik. Er schreibt über die Opfer und ihre Angehörigen wie über die Täter, deren Helfershelfer und Beschöniger, aber auch über mutige Retter. Er stellt dar, wie, nach einem Wort Ernst Jüngers, Moral durch Hygiene ersetzt wurde, an Futterneid und Versorgungsängste appelliert wurde, Ekel ebenso wirksam war wie verquere Empathie („Erlösung“).In alledem versucht er, auch diesem gemordeten „lebensunwerten Leben“ Namen, Gesicht und Schicksal wiederzugeben. Das Ergebnis ist so anrührend wie nachhaltig beeindruckend. In einem deprimierenden Anhang rekapituliert der lange Zeit als Außenseiter der Zunft geltende Aly, wie die approbierte Forschung ihn dabei zunächst torpedierte und dann expropriierte. Schon deshalb hätte dieses Buch den Preis verdient: für die Ausdauer und die Lebensleistung seines Autors.Auf zwei BeinenFür den Philosophen Wilhelm Szilasi zeigte sich die Gerechtigkeit der Natur darin, dass sie, wenn sie das eine Bein kürzer, das andere umso länger mache. Auf solch eiener Gerechtigkeit kann man allerdings ohne Hilfsmittel nicht gut stehen. Wie ohnehin schon der Umgang auf zwei handelsüblichen Beinen aus dem Blickwinkel der Arbeitsmedizin „einer der unsichersten Fortbewegungsvorgänge [ist], die es unter Lebewesen in der Natur gibt.“ Vielleicht quälen die Ingenieure darum ihre Roboter und Androiden auf zwei Beine, damit sie uns nicht zu viel voraushaben. Vier Beine wie beim Tisch oder dem uns näheren Getier wären für Standfestigkeit und Fortbewegung günstiger, indes nicht für Sprachentwicklung, Waffengebrauch und ganzjährige Brunft. Und wie Goethe wusste: „Stolpern fördert“. Außerdem hätte man die Hände nicht frei und den Kopf zu nahe am Schwein.Darum zeigt der Philosoph Kurt Bayertz in Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, dass aufrechte Haltung die Augen zu öffnen und den Horizont zu erweitern vermag. Es hat die Philosophie in ihrer Geschichte den aufrechten Gang, den Ernst Bloch der Menschheit gar qua Aufstand erst als Ziel verschreiben wollte, fast ausschließlich dazu genutzt, Geist und Kopf hoch und den Körper in dessen Diensten unten zu halten. Friedrich Engels hat wohl erstmals auf jene erbauliche Wechselwirkung von Hirn und Körper reflektiert, auf die „soziale Selbsterzeugung“ des Menschen, die man heute allgemeiner anzunehmen geneigt ist. Bayertz‘ Schmuckstück des anthropologiegeschichtlichen Nachdenkens über den aufrechten Gang lässt sich im Sitzen wie im Liegen lesen. Und ist nicht nur seinen, sondern wäre auch des Preises wert.
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