Lügner und Sektierer

Gemeinwohl Simone Weils Essay zur generellen Abschaffung Parteien wurde wieder aufgelegt. Ihre Thesen werden der heutigen parlamentarischen Demokratie nicht mehr gerecht

Von alten Texten, die irgendwann wieder entdeckt werden, heißt es oft, sie haben nichts an Aktualität eingebüßt. Das sagen dann vor allem die Wiederentdeckerinnen, die ihre Entdeckung schließlich erst zu einer machen müssen. Von Aktualität ist bei dem Aufsatz der Philosophin Simone Weil über politische Parteien, der jetzt neu herausgegeben wurde, zwar nicht die Rede. Aber „nichts an Brisanz verloren“ habe der Text jener vor hundert Jahren geborenen Kämpferin, heißt es auf dem Klappentext.

Weil war Sozialistin, dann Anarchistin und schließlich katholische Mystikerin, bevor sie 1943 erst 34-jährig starb. Aus dem gleichen Jahr stammt der nun erschienene Text, eine leidenschaftliche Polemik gegen das Parteienwesen. Aber leidenschaftlich ist vielleicht schon das falsche Wort. Denn bei Leidenschaften ist Weil skeptisch. Neben der Propaganda sei die Erzeugung „kollektiver Leidenschaften“ schließlich eine der zentralen Funktionen, die politische Parteien erfüllen.

Dass Weil darin nichts Positives sehen konnte, lag aber nicht allein am Nationalsozialismus – knapp ein Jahr vor der Abfassung des Textes war sie vor den Nazis aus Frankreich geflohen. Weil geht es um weit mehr als um ihre konkreten historischen Umstände. Die Parteien schlechthin seien, so Weil, „in Keim und Streben totalitär.“ Denn sie fabrizierten nicht nur jene kollektiven Leidenschaften, die das klare Denken behindern. Sondern sie unterdrücken dieses Denken zudem durch die aufgezwungene Parteidisziplin. Und die Propaganda diene letztlich nur der Vergrößerung der Partei und keinesfalls dem allgemeinen Wohl.

Hier nimmt Weil die Partei wörtlich: Vom Lateinischen pars, dem Teil stammend, kann sie nur bestimmte Gruppen repräsentieren und niemals alle. Sie ist, welcher Couleur auch immer, partikularistisch und nicht universalistisch. Das aber ist für Weil das Problem: Glaubt man wie sie, angelehnt an Rousseau, an die eine, absolute und am Gemeinwohl orientierte Wahrheit, können die Parteien nur als Produzentinnen von Lüge und Sektierertum erscheinen.

Allerdings ist das genau der Punkt, an dem Weil vielleicht noch brisant, aber wohl kaum aktuell ist. Denn erstens lässt sich die zeitdiagnostische Schlussfolgerung kaum halten, dass wegen der Existenz von Parteien „nur Maßnahmen beschlossen und durchgesetzt werden, die dem Gemeinwohl, der Gerechtigkeit und der Wahrheit entgegenstehen.“ Solche Verallgemeinerungen mögen der Selbstvergewisserung der Parteiengegner dienlich sein, über die vielschichtigen Realitäten geben sie hingegen weniger Auskunft.

Zudem verstellen sie gerade den Blick auf jene Mechanismen, die die relativ breite Akzeptanz des parlamentarischen Parteiensystems ausmachen. Besonders bedenklich wirkt sich Weils Orientierung am Geist der Aufklärung aber noch in anderer Hinsicht aus. Während die klassisch-anarchistische Kritik an den konformistischen Haltungen und hierarchischen Beziehungen, die die Parteien hervorbringen, sich direkt gegen die Form der politischen Partei richtet, dehnt Weil ihre Kritik über die Parteiform hinaus auf einen „Parteiengeist“ aus.

Diesen macht sie nicht nur in Kirchen und Vereinen aus, sondern schon in Milieus, die sich um eine Zeitschrift sammeln und schließlich in der „Operation des Partei-Ergreifens, der Stellungnahme“ schlechthin, der sie das „Denken“ gegenüber stellt. Weils Polemik erscheint also zweitens nicht gerade auf dem aktuellsten Stand, da differenztheoretische Ansätze seit langem die Vorstellung in Zweifel ziehen, es gäbe einen Zustand seliger Einigkeit, zu dem man als Menschheit nur zurückkehren müsste.

Diesem harmonistischen Humanismus Weils wäre entgegen zu halten, dass sich selbst das, was als Gemeinwohl denkbar ist, erst im Widerstreit der Stellungnahmen herausbilden muss. Ein Streit, der nie abgeschlossen ist. Dass sich nun mal auch Parteien daran beteiligen, ist beileibe nicht das Problematische an ihnen. Die libertäre Parteienkritik müsste sich, sofern sie sich an Weil orientiert, also dringend um eine Aktualisierung ihrer theoretischen Grundlagen bemühen. Die neuere deutschsprachige Debatte um die französische Philosophin, die vor drei Jahren mit dem von Charles Jacquier herausgegebenen Buch Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus losgetreten wurde und mit der nun vorliegenden Schrift fortgeführt werden kann, könnte dafür ein Anlass sein.

Anmerkungen zur generellen Abschaffung der politischen Parteien Simone Weil, Diaphanes, Berlin, Zürich 2009, 48 S., 10

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