1994 Gehirnerschütterungen wurden im US-Football lange nicht ernst genommen. Das änderte sich, als vor 20 Jahren der junge Spieler Troy Aikman schwer am Kopf verletzt wurde
23. Januar 1994, die Nr. 8 Troy Aikman will anspielen, aber wohin?
Foto: Rick Stewa/ AFP/ Getty Images
Es war eine Gehirnerschütterung, von der noch heute gesprochen wird, 20 Jahre danach. In den USA brodelt eine Debatte, ob im Football die vielen schweren Gehirntraumata noch hingenommen werden können. Immer mehr frühere Spieler der professionellen National Football League (NFL) erkranken an Demenz, leiden an parkinsonartigen Behinderungen und Depressionen: offenbar Folgen zahlreicher Hits auf die behelmten Köpfe.
Texas Stadion, in der Nähe von Dallas, 23. Januar 1994: Dallas Cowboys gegen San Francisco 49ers. Es geht um die National Football Conference-Meisterschaft, darum, wer eine Woche später gegen das Top Team im American Football beim Superbowl spielt, dem Endspiel der NFL. Dallas in Weiß, San Francisco in Rot. Halbzeitstand ist 28 zu 7, die Cowboys l
Cowboys liegen vorn. Ein gutes Spiel für deren Nummer 8, den jungen Quarterback Troy Aikman, den blonden Adonis. Bis zum 3. Quarter. Die Cowboys greifen an. Aikman will werfen, doch keiner seiner Angreifer steht frei. San Franciscos Verteidiger stürmen auf Aikman zu.„Er geht unter“, kommentiert der Fernsehreporter, „jetzt sehen Sie das rechte Knie, genau auf seinem Helm ...“ Dann liegt Aikman auf dem Spielfeld, umringt von Trainern und medizinischem Personal. Das Knie auf seinem Kopf war das von San Francisco-Verteidiger Dennis Brown. Der hatte beim Ansturm auf Aikman den Helm des stürzenden Quarterbacks getroffen. Aikman kann nicht weitermachen. Ersatz-Quarterback Bernie Kosar übernimmt und führt die Cowboys zum Sieg, 38 zu 21. Die Fans jubeln, während Aikman ins Hospital gebracht wird, Verdacht auf Gehirnerschütterung.Nichts mehr behaltenWas dann passiert ist, hat Aikmans Agent Leigh Steinberg im Herbst 2013 während einer Fernsehdokumentation des Senders PBS erzählt, die sich mit Langzeitgesundheitsfolgen beim Football befasste. Troy Aikman lag in einem abgedunkelten Zimmer, er habe Steinberg gefragt: „Leigh, wo bin ich? – „Im Krankenhaus.“ – „Und warum?“ – „Weil du eine Gehirnerschütterung hast.“ Gegen wen die Cowboys gespielt hätten? „Die 49ers.“ – „Und haben wird gewonnen?“ – „Ja.“ – „Und was bedeutet das?“ – „Ihr kommt in den Superbowl.“ Im Abstand von fünf Minuten habe sich diese Konversation zweimal wiederholt. Aikman konnte sich an nichts erinnern und nichts behalten. Eine Woche später spielte er wieder im Superbowl gegen die Buffalo Bills. Die Cowboys gewannen 30 zu 13.Gehirnerschütterungen wurden im US-Football lange nicht ernst genommen. Ein richtiger Mann steckt es weg, wenn er vom 150 Kilo schweren Gegenspieler bei vollem Tempo umgerannt wird und mit dem Kopf auf den Kunstrasen knallt. Der Coach erwartet, dass ein Spieler nach dem Knock-out umgehend wieder antritt.Obwohl schon Ende der neunziger Jahre erste Stimmen von Spielern laut wurden, dass mit diesen Gehirn-Traumata nicht zu spaßen sei, und Mediziner ihre Besorgnis äußerten, betonte die NFL noch 2005, kein Spieler habe jemals „permanente Gesundheitsschäden“ durch Gehirnerschütterungen erlitten. Football bleibt in den USA der lukrativste und beliebteste Profisport. Die Gewalt auf dem Rasen nimmt ihren Lauf, weil Millionen Zuschauer nicht nur raffinierte Spielzüge sehen wollen, sondern den Crash der athletischen Schwergewichte. Die Eigentümer der 32 Profiteams und die TV-Networks, die pro Jahr rund fünf Milliarden Dollar für die NFL-Rechte zahlen, wollen ihrer Goldenen Kuh nichts antun. Die Cowboys, die sich „Amerikas Team“ nennen, haben einen geschätzten Wert von mehr als zwei Milliarden Dollar. Der Vorsitzende des NFL-Untersuchungskomitees für „milde traumatische Gehirnverletzungen“, wie es hieß, war bis 2007 kein Neurologe, sondern ein Arzt, der als Rheumaspezialist bekannt war.Troy Aikman machte 2001 Schluss: Nach elf Jahren im Profi-Football könne er nicht mehr anders, aus gesundheitlichen Gründen, wegen der vielen Gehirnerschütterungen, rund zehn in seiner Karriere. Brett Favre, 20 Jahre Quarterback, hauptsächlich bei den Green Bay Packers, erzählte kürzlich in einem Washingtoner Hörfunksender von Gedächtnisstörungen: Er könne sich nicht daran erinnern, dass seine Tochter Fußball gespielt habe. Wie er berichten inzwischen Tausende Ex-Spieler von Gedächtnisschwund, Depressionen und Denkschwierigkeiten. Ärzte diagnostizieren „chronisch traumatische Enzephalopathie“ (CTE), ausgelöst durch wiederholt starke Erschütterungen des Kopfes. Junior Seau, mehrmals gekürt zum NFL-Spieler des Jahres, spielte 19 Jahre lang für die San Diego Chargers, Miami Dolphins und New England Patriots. Am 12. März 2012 nahm er sich mit 43 Jahren das Leben, indem er sich in die Brust schoss. Angeblich litt er an Depressionen und Schlaflosigkeit. Sein Gehirn wollte er offenbar nicht zerstören beim Suizid: Angehörige ließen den Leichnam zur Obduktion in das Nationale Gesundheitsinstitut bringen. Dort fanden die Mediziner Atrophie und andere Indizien für CTE. Dutzende Ex-Footballprofis haben ihr Gehirn in den vergangenen Jahren der Medizin gespendet. Bei fast allen sei CTE nachgewiesen worden, schrieb die New York Times.Kantersieg für die LigaDie Eigentümer der NFL-Teams und die Funktionäre der Liga bestreiten nach wie vor jede Verantwortung, doch wurden die Spielregeln umgeschrieben, um Kopfverletzungen zu reduzieren. Das hilft nur begrenzt: In der laufenden Saison gab es 146 Gehirnerschütterungen; in der vorherigen waren es 171. Die berüchtigte Dunkelziffer dürfte hoch sein, denn 2011 haben mehr als 4.000 aktive und ehemalige Spieler die Liga verklagt: Sie habe Gehirnverletzungen fahrlässig und bewusst hingenommen und Spieler in die Irre geführt. Im August 2013 kam es zu einem Vergleich: Die NFL zahlt in den kommenden 20 Jahren 765 Millionen Dollar an kranke Spieler und zur Erforschung der CTE. Für pflegebedürftige Ex-Footballstars ein Hoffnungsschimmer.Für die Liga war das ein Kantersieg: Bei dem Vergleich musste sie nicht offenlegen, wie sie über Jahre hinweg medizinischem Wissen zum Trotz Risiken von Gehirnerschütterungen verborgen hatte, und konnte daran festhalten, Spieler niemals falsch informiert zu haben. Kritiker vergleichen die NFL-Haltung mit den langjährigen Behauptungen der Tabakindustrie, Zigaretten hätten nichts zu tun mit Lungenkrebs. Und die 765 Millionen sind durchaus hinnehmbar für eine Liga, die pro Jahr geschätzte zehn Milliarden Dollar umsetzt. Freilich stehen bei den Vereinen genug Athleten unter Vertrag, die willens sind, die gesundheitlichen Risiken hinzunehmen.2012 wurde gar aufgedeckt, dass bei den New Orleans Saints die Spieler selbst eine Kasse führten, aus der all jene bezahlt wurden, wer einen Kontrahenten „kalt gestellt“ und „aus dem Spiel rausgeschlagen“ hatten. So sei vor einem Play-Off-Match 2010 angeblich eine 35.000-Dollar-Belohnung ausgesetzt worden für den Spieler, der dem gegnerischen Quarterback Brett Favre einen Knock-out verpasst, berichtete Sports Illustrated.Widersprüchlichkeit zeigt sich auch bei Troy Aikman, heute 47 Jahre alt. Er ist der NFL treu geblieben und arbeitet als Kommentator. Die Berichte in der PBS-Fernsehdokumentation, in der auch über seine eigene Kopfverletzung vor 20 Jahren gesprochen wurde, seien schockierend, räumte Aikman im Informationsdienst Sporting News ein. Es gebe derzeit jedoch keine Symptome für einen Langzeitschaden. Seinem Sohn würde er weder zu einer Football-Karriere raten noch ihn davon abhalten.Football ist in den USA nicht der einzige Sport mit häufigen Gehirntraumata. Der Eishockeyliga NHL droht eine Klage von Spielern. Und Ärzte warnen vor Gehirnerschütterungen auch im College- und High-School-Football. Präsident Barack Obama sagte Anfang 2013 der Zeitschrift New Republic, er sei ein „großer Football-Fan, würde aber, hätte er einen Sohn, „lange und hart nachdenken“, ob der Football spielen sollte.
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