Nehmt es nicht einfach hin

Vorschriften Oft fügt man sich unsinnigen Vorschriften, ohne sie zu hinterfragen. Das macht das Leben einfacher. Dabei lohnt es, sich dem alltäglichen Unfug auch mal entgegenzustellen
Ausgabe 32/2013

Der nicht mehr junge Vater steht am Schalter einer Service-Stelle der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und bittet um eine Schülermonatskarte für seinen Sohn. Die junge Frau hinter dem Tresen möchte den Schülerausweis des Sohnes sehen. Der Mann hat nur das erforderliche Passfoto bei sich. Er legt es vor und sagt: „Der Junge ist zehn Jahre alt. Also ist er ein Schüler. Was braucht es da noch einen Schülerausweis?“ Die junge Frau insistiert: „Ich muss einen Schülerausweis gezeigt bekommen.“ Der Vater wird ungeduldig: „Wir haben in Deutschland Schulpflicht. Das ist Gesetz. Wäre der Junge kein Schüler, wäre das ein Fall fürs Amtsgericht, mindestens fürs Jugendamt.“ Noch bleibt sein Gegenüber am Schalter unerbittlich. Der Frau muss inzwischen klar sein, dass der Standpunkt des Vaters vernünftig und ihre Vorschrift unvernünftig ist. Diese Einsicht aber macht sie eher muffig. Gut geschult, wie sie ist, verbirgt sie ihren Ärger hinter steinerner Miene.

Was bringt die BVG-Angestellte in diese Lage? Warum gibt es eine so unvernünftige Vorschrift? Die Chefs der Berliner Verkehrsbetriebe sind kluge Leute, manche haben studiert. Man sagt ihnen gewiss nichts Überraschendes, wenn man sie auf diesen Unfug hinweist, mit dem sie ihre Angestellten in unangenehme Situationen bringen.

Hinterfragt den Unsinn

Aber geschieht das überhaupt oft? Gibt es viele, die an der unsinnigen Vorschrift Anstoß nehmen? Sind nicht die meisten gewohnt, dass es dergleichen in der Welt gibt und man sich das Leben einfacher macht, wenn man sich umstandslos fügt? Werden solche unsinnigen Vorschriften vielleicht gerade dazu geschaffen, dass die Leute eingeübt werden, sich darein zu fügen, ohne welche Praxis Politik nicht funktionieren würde – zumindest die Politik unserer Parteien nicht?

Es wäre ähnlich wie mit den Verkehrsschildern auf unseren Straßen. Im Verkehrskindergarten lernen die Kleinen die Bedeutung der einzelnen Schilder kennen. Später, draußen im Kiez und darüber hinaus lernen sie, dass mit so Gelerntem nichts anzufangen ist. So viele Schilder stehen allenthalben mit zum Teil gegensätzlichen Bestimmungen beieinander, dass daraus kein ernst zu nehmender Hinweis für richtiges Verhalten im Straßenverkehr zu entnehmen ist.

Training durch Blödsinn ist beim Militär Alltag. Da ruft der Unteroffizier angesichts einer großen Pfütze „MG-Feuer von links“, und die Soldaten müssen sich blitzschnell in die Pfütze werfen. Einmal blieb einer stehen, legte mit dem Gewehr nach links an und schrie „Päng“. Der Unteroffizier fragte empört, was das solle. „Ich habe den MG-Schützen erschossen“, sagte der Soldat. Die Sache ging nicht gut für ihn aus, aber der Unteroffizier kommandierte fortan: „Tiefflieger von links.“

Der Unfug in der Welt

Zurück zum BVG-Schalter. Da sagte der Vater schließlich: „Im Übrigen: Wo soll ich einen Schülerausweis herkriegen? Die Grundschule hat der Junge vor den Ferien verlassen. Das Gymnasium beginnt erst nächste Woche.“ Diese Wendung zum Pragmatischen wirkte wie ein Waffenstillstandsangebot. „Ich kann Ihnen für einen Monat eine Schülerfahrkarte ausstellen“, offerierte die Frau am Schalter, ohne auch nur ansatzweise anzudeuten, sie sei bereit im Prinzipiellen einzulenken. Das Papier wurde schweigend ausgestellt. Schweigend wurde dazu die Fahrkarte herausgegeben. „Danke“, sagte der Mann, was unbeantwortet blieb. „Auf Wiedersehen“, sagte er noch. Da wäre wohl eine Antwort zu viel verlangt gewesen.

In Erich Kästners Roman Das fliegende Klassenzimmer schärft der Deutschlehrer seinen Schülern den Satz ein: An allem Unfug, der in der Welt geschieht, sind nicht nur die schuld, die ihn begehen, sondern auch die, die ihn zulassen. Ein schöner Satz! Ein schöner Gedanke! Wie schön wäre es, wenn er ernst genommen würde.

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