Der strömende Regen, der die Gullys in der Londoner Innenstadt überlaufen lässt, verhindert nicht, dass sich vor der Tür des Veranstaltungssaals eine lange Schlange bildet, die sich bis auf die gegenüberliegende Straßenseite erstreckt. Drinnen suchen Leute aufgeregt nach Freunden oder Sitzplätzen. Als mit 15-minütiger Verspätung ein kleiner, alter Mann vorsichtig auf die Bühne klettert, brandet laut Applaus auf. Es wird gejohlt und anfeuernd gepfiffen.
Noam Chomsky brauche man nicht vorzustellen, sagt die Moderatorin. Und in diesem Fall trifft die Floskel wohl zu: Bei einer Umfrage des US-Magazins Foreign Policy wurde er zum wichtigsten Intellektuellen im englischsprachigen Raum gewählt. Eine Untersuchung über die am häufigste
e am häufigsten zitierten Wissenschaftler kam zu dem Ergebnis, dass der Linguistik-Professor mit der großen Leidenschaft für die Politik hinter Plato und Freud auf dem achten Platz rangiert. Und im Buchladen die Straße runter hat Chomsky neben Marx sein eigenes Regal im Bereich für politische Literatur.Auf der Bühne beginnt er mit monotoner Stimme zu sprechen, es wirkt beinahe ein wenig einschläfernd. Doch als er erzählt, dass er im vergangenen Oktober zum ersten Mal den Gaza-Streifen besuchte, kommen schnell jene Eigenschaften zum Vorschein, für die seine politischen Äußerungen bekannt sind: seine flammende Wut und seine außergewöhnliche Bandbreite an Bezügen und Verweisen. Er mischt das persönliche Zeugnis mit detaillierten Kenntnissen über die alte und neue ägyptische Regierung und mit dem historischen Kontext der israelischen Besatzung. Dabei häuft er Fakten auf Fakten, immer wieder durchzogen von beißendem Sarkasmus – die Gräuel werden „von Europa wie immer höflich toleriert“ – und drastisch urteilenden Beschreibungen.Vereinfachende ArgumentationBeim Zuhörer erreicht diese Rhetorik nicht immer die beabsichtigte Wirkung. Die Fakten sprechen ja eigentlich für sich. Die wertenden Adjektive und Chomskys Sarkasmus haben oft den ungewollten Effekt, sie zu entwerten. Er zwängt damit seinen Zuhörern eine vereinfachende Argumentation auf. Seine Sätze, schrieb der New Yorker einmal, sind „Schuldzuweisungen, die aber nicht von einem Standpunkt der Unschuld oder der Hoffnung aus geäußert werden. Sein Sarkasmus ist der finstere Ausdruck einer gefallenen Welt. Es ist der Spott, den der Veteran der Hölle für die Leichtgläubigen übrig hat“. Seine Weltsicht wirke dadurch auch seltsam statisch.Beim Interview am nächsten Tag in einem vornehmen Londoner Hotel antwortet Chomsky auf diese Kritik, dass er bei seinen Zuhörern keineswegs immer offene Türen einrannte, dass die Leute nicht schon immer Schlange standen, um ihn reden zu hören. Noch nicht einmal mit einem skeptisch-aufgeschlossenen Publikum konnte er rechnen. „Vor fünf Jahren brauchte ich bei Diskussionen über den Nahostkonflikt noch Polizeischutz, weil mir so große Feindseligkeit begegnete“, sagt er leise.Im direkten Gespräch beantwortet er Fragen freundlich und mit großem Ernst, wenn auch nicht immer direkt – was bei einem Mann überrascht, der für die Brutalität seiner Argumentation und seinen unbedingten Siegeswillen berüchtigt ist. Vom „Dominanzverhalten eines Alpha-Männchens“, sprach einmal ein Professoren-Kollege. Es soll Studenten gegeben haben, die nur zu zweit in Chomskys Sprechstunde gingen, um sich gegenseitig verteidigen zu können. In der riesigen Hotel-Lobby macht er eher einen zerbrechlichen Eindruck.Chomsky ist der Sohn zweier Hebräisch-Lehrer, die um 1900 aus der Ukraine und Russland in die USA auswanderten. Und er begann sein politisches Denken selbst als Zionist – allerdings als die Art von Zionist, die eine sozialistische Gesellschaft anstrebt, in der Juden und Araber gleichberechtigt nebeneinander leben. Seit er sich vor mehr als 30 Jahren für die Redefreiheit eines französischen Professors einsetzte, der später wegen Leugnung des Holocaust verurteilt wurde, wird Chomsky immer wieder mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert. Das linke US-Magazin The Nation schrieb, es zeige die Beschränktheit der Nahostdebatte in den USA, dass Chomsky irgendwann in den Ruf geriet, Amerikas prominentester Vertreter des sich selbst hassenden Juden zu sein.In seiner Kritik an Israel hat ihn das aber nie gebremst. Von Obama erwarte er auch keine neuen Impulse für den Nahostkonflikt. „Da haben sich viele Illusionen gemacht.“ Was die Folgen des Arabischen Frühlings anbelangt, urteilt er hingegen vorsichtig optimistisch. Er sieht in ihm ein „klassisches Beispiel starker Basisbewegungen“ – grenzt sich aber mit trockenem Humor vom Verhalten des Westens ab. „Am Vorabend der Demonstrationen auf dem Tahir-Platz wurde in Ägypten eine Umfrage durchgeführt, bei der 80 bis 90 Prozent der Ägypter als größte Bedrohung die USA und Israel nannten. Sie mögen den Iran nicht, die meisten Araber tun das nicht. Aber sie betrachteten ihn nicht als Bedrohung. Eine nicht unerhebliche Zahl von Ägyptern war damals sogar der Ansicht, es sei für die Region besser, wenn der Iran im Besitz von Atomwaffen wäre – weil sie die, die sie als ihre wahre Bedrohung empfanden, verärgern wollten. Das war ganz offensichtlich nicht das, was der Westen hören will.“Der militärische HumanismusAuch mit seiner Kritik des „neuen militärischen Humanismus“ hat Chomsky im Westen viele verärgert. Sollte man seiner Meinung nach in Syrien eingreifen? Sollte man die Opposition bewaffnen oder intervenieren? „Ich glaube, dass Waffenlieferungen eher zur Eskalation beitragen. Eine Verhandlungslösung ist notwendig. Aber das müssen die Syrer unter sich ausmachen. Außenstehende können nur bei den Rahmenbedingungen helfen. Zweifellos begeht die Regierung viele Gräueltaten, die Opposition auch einige.“ Es bestehe aber die Gefahr, dass das Land auf dem Weg in den Selbstmord sei. „Das will doch niemand.“Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Chomsky bereits 1959. Damals stellte er in einer Rezension eine These vor, die er auch schon in seinem ersten Buch Syntactic Structures zwei Jahre zuvor vertreten hatte: Sie besagte, dass entgegen der vorherrschenden Meinung, Kinder lernten Sprache mittels Nachahmung und Verstärkung, grundlegende grammatikalische Strukturen bereits bei jedem Menschen bei der Geburt angelegt seien. Die These revolutionierte die linguistische Forschung und hatte für jeden, der sich mit dem menschlichen Bewusstsein beschäftigt, grundlegende Konsequenzen.Auch in Bezug auf das politische Denken legt sie gewisse Schlussfolgerungen nahe. Unterstellt die Annahme angeborener sprachlicher und – daran anschließend – moralischer Strukturen nicht einen Determinismus, der jede Entscheidungsfreiheit leugnet? Und wenn ja, worin liegt dann der Sinn, für irgendeine Form der Veränderung zu streiten? „Die meisten liberalen Positionen sind sich einig, dass es Instinkte gibt, Grundeigenschaften der menschlichen Natur, die zu einer bevorzugten gesellschaftlichen Ordnung führen“, sagt Chomsky. „Sobald man irgendeine Politik vertritt – egal ob eine reformerische, eine revolutionäre, eine regressive oder was auch immer –, wenn man also ein Minimum an Werten besitzt, dann, weil man denkt, etwas sei gut für die Menschen. Und gut bedeutet: der menschlichen Natur entsprechend.“Woher kommt seine Wut?Die entscheidende Frage aber laute: „Wonach streben wir, wenn wir eine gesellschaftliche Ordnung errichten, die grundlegende menschliche Bedürfnisse befriedigen soll? Sind Menschen zu Sklaven oder Herren geboren? Oder um sich zu freien, kreativen Individuen zu entwickeln, die mit anderen zusammenarbeiten, um ihr Leben selbst zu gestalten?“Wenn Menschen Geschöpfe ohne jegliche Struktur wären, wären sie lediglich Werkzeuge, die von außen geformt werden könnten, erklärt Chomsky seine politische Philosophie, die ihn zu einer scharfen Ablehnung des Behaviorismus führt. „Die Geschichte des radikalen Behaviorismus, demzufolge der Mensch vollständig von äußeren Kräften geformt werden kann, zeigt, dass die ideale Gesellschaft für die Anhänger dieser Lehre eine totalitäre ist.“Chomsky, mittlerweile 84 Jahre alt, ist fast sein ganzes Leben lang politisch engagiert. Sein erster Artikel richtete sich gegen den Faschismus. Er schrieb ihn, als er zehn Jahre alt war. Woher kommt seine Wut, die ihn bis heute zum Engagement antreibt? „Ich wuchs während der Großen Depression auf“, erzählt er. „Meine Eltern hatten Arbeit, aber viele in der Familie nicht. Ich habe von Anfang an Armut und Repressionen kennengelernt. Ich erinnere mich, dass Leute an unsere Tür klopften und verzweifelt versuchten, Lumpen zu verkaufen. Ich war damals vier. Und ich erinnere mich an eine Straßenbahnfahrt mit meiner Mutter, bei der wir an einem Arbeiterinnenstreik vorbeikamen. Die Frauen blockierten die Straße, die Polizei schlug sie blutig.“Als Fünfjähriger traf er auch erstmals seine spätere Frau Carol. Die beiden heirateten, als sie 19 und er 21 war. Und sie blieben zusammen, bis Carol beinahe 60 Jahre später starb. Chomsky redet viel von ihr: etwa von der Strenge, mit der sie über seinen Zeitplan wachte, wenn sie ihn auf Lesereisen begleitete. In Lateinamerika bekam sie dafür den Spitznamen El Comandante. Carol sorgte auch für Erdung und Ausgleich im Leben ihres Mannes: Sie achtete darauf, dass er fernsah und auf Konzerte ging. Sie förderte seine Liebe fürs Segeln und fuhr selbst Wasserski bis zum Alter von 75.Politisch aktiv war sie ebenfalls: Sie nahm auch die drei gemeinsamen Kinder mit auf Demonstrationen. Einmal, als sie gegen den Vietnamkrieg protestierten, wurden beide Eltern verhaftet. „Man bekommt dann ein Telefongespräch aus der Zelle. Also rief meine Frau unsere Älteste an, die damals 12 war und sagte ihr: ‚Wir kommen heute Abend nicht nach Hause. Kannst du auf die beiden Kleinen aufpassen?‘ So ist das Leben.“Zeit des ÜbergangsDass Frauen vor ihren Männern stürben, sei eine besondere Sinnlosigkeit, sagte Chomsky schon vor Jahren in einem Interview: „Weil Frauen so viel besser allein zurechtkommen. Sie reden miteinander und unterstützen einander. Mein engster Freund sitzt im Büro neben meinem. In all den Jahren, die wir uns kennen, haben wir nicht einmal über unsere Ehen geredet.“ Inzwischen hilft ihm seine älteste Tochter mit all den Alltagsdingen. „In gewisser Hinsicht findet gerade ein Übergang statt.“Glaubt er, dass er in all den Jahren, in denen er geredet, gestritten und geschrieben hat, etwas verändern konnte? „Ich denke nicht, dass ein Einzelner allein etwas verändert. Martin Luther King war eine wichtige Figur. Aber er hätte nicht sagen können: ‚Das hier habe ich verändert.‘ Er stieg auf einer Welle zu Bekanntheit auf, die vor allem von jungen, an der Basis arbeitenden Menschen getragen wurde. In den frühen Jahren der Antikriegsbewegung organisierten, schrieben und redeten wir alle. Nach und nach fielen gewisse Dinge gewissen Leuten leichter, sie wurden darin besser. Ich hörte deshalb auf, zu organisieren – ich konnte besser lehren und schreiben. Freunde von mir taten das Gegenteil. Sie hatten deshalb nicht weniger Einfluss. Sie wurden nur nicht so bekannt wie ich.“Chomskys letzte Worte seiner Rede an dem verregneten Abend in London lauten: „Wenn die Mächtigen nicht lernen, die Würde ihrer Opfer zu respektieren, wird es weiterhin unüberwindbare Hürden geben und die Welt wird zu noch mehr Gewalt und Leid verurteilt sein.“ Es ist ein düsterer Schluss. Doch er verlässt die Bühne begleitet von stehenden Ovationen.Aida Edemariam ist Reporterin des Guardian
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.