Von diesem offenen Brief kann ich natürlich nicht behaupten, er sei nur an den von mir aus manchen Gründen geschätzten Privatmann Wolfgang Thierse gerichtet und gehe gänzlich am Bundestagspräsidenten vorüber. Was sollte eine solche Behauptung anders sein als unsinnig?
Aber ich will für dieses Mal - wider besseres Wissen - dennoch so tun, als sei sie es nicht, weil ich an den Privatmann einen gröberen Brief schreiben kann als es mir als altmodischem Menschen an die Amtsperson angemessen erschiene. Und ungeschminkt deutlich soll dieser Brief werden.
Anders gesagt: Keine Scheu meinerseits vor jeder Schärfe gegen Amtsinhaber - in einem Kommentar. Aber Rücksicht auf den Gratulanten, der Sie jüngst auf unsere Bitte in diesem Blatt (»Freit
latt (»Freitag« Nr. 33) gewesen sind. Ihre Laudatio galt unserem Herausgeber Dr. Wolfgang Ullmann zu dessen 70. Geburtstag. Die Absichten und das Wirken dieses Mannes, Bürgerrechtler in der DDR vor der Wende und seither im staatlich vereinten Deutschland, als dessen Freund ich mich verstehe, haben Sie, Herr Thierse, einfühlsam und mit Zuneigung beschrieben. Wir danken Ihnen.Dennoch will ich einer Passage Ihres Textes entschieden widersprechen. Sie sind zu einer Antwort auf meine Kritik herzlich eingeladen. Selbstverständlich wird die Redaktion Ihnen diesen Brief vor Veröffentlichung zustellen lassen.Sie charakterisieren Gegner des Kosovo-Krieges der NATO als »einen Chor derer«, ich zitiere weiter: »die durch ihre massive Kritik an den NATO-Bombardements ihr jämmerliches Stillschweigen zu Milosevics ethnischer Vertreibungs- und Mordpolitik zu kaschieren versuchen.« Ende des Zitats.Ende der Geduld. Für mich, Herr Thierse, ist diese Gleichsetzung von Kommentatoren, die begründet gewarnt haben vor dem sinnwidrigen, seinen erklärten Absichten vorhersehbar nicht gewachsenen Krieg der NATO - für mich ist die Gleichsetzung der kritischen Warner mit Leuten, die »jämmerlich stillschweigen« über die Folgen von Milose vics Politik, eine Beleidigung.Es ist noch nicht so lange her, daß Sie den Eindruck machten, auch als ein politisch engagierter Mensch imstande zu sein, in einiger Distanz zu gewissen politisch-intellektuellen Dreistigkeiten zu agieren. Ich habe Sie dafür hoch geschätzt. War das nun seinerzeit nur Mangel an Erfahrung in politischer Gewöhnlichkeit? Sind Sie jetzt als Politiker in der vorherrschenden Professionalität zu Hause?In einem Kommentar wäre es mir zu persönlich, aber in einem Brief ist wohl erlaubt zu schreiben: Wenn Sie, Wolfgang Thierse, so weit gekommen sein sollten, dann stimmte mich das sehr traurig.Die pauschale Diffamierung der Kriegsgegner, die Sie jetzt benutzt haben, entspricht allergewöhnlichster Politik. Bitte, Wolfgang Thierse, der Sie mir noch frisch in ganz anderer Erinnerung sind: Können Sie sich noch einmal als Abweichler von dieser Linie wieder auf die eigenen Beine stellen?Die übliche Unverfrorenheit mancher, nicht weniger Politiker, spekuliert auf das kurze Gedächtnis der Wähler; die meisten Politiker haben wohl auch selber eins, von persönlichen Rechnungen abgesehen. So oder so: Spekuliert wird im Blick auf die erste Kriegsteilnahme der Berliner Republik, es werde wohl längst vergessen sein, daß vom deutschen Auswärtigen Amt noch Anfang dieses Jahres in einem offiziellen Gutachten erklärt wurde, albanische Flüchtlinge in Deutschland könnten ohne Gefahr für Leib und Leben in Milosevics Kosovo zurückkehren: in das Schlachthaus, als das es heute gilt. Der Kosovo ist, Gott sei's geklagt, ein Schlachthaus seit längerem, aber im ganzen gesehen ein anderes, als es in der westlichen Kriegspropaganda dargestellt wird.Tatsächlich war der Kosovo schon seinerzeit, als das AA sein beschwichtigendes Gutachten abgab, eine Provinz in der ein blutiger ethnischer Bodenkrieg von zwei Seiten geführt wurde. Keine Begleiterscheinungen von Kriegen fehlten: Morde auf beiden Seiten. Die jeweils Stärkeren morden in der Regel mehr Menschen als die Schwächeren; wenn sie von Dritten (etwa der NATO) angegriffen werden, werden sie gewöhnlich noch mörderischer. Dieses Blatt wendet sich jetzt im Kosovo, soweit es die Starken und die Schwachen betrifft; inhaltlich steht auf beiden Seiten des Blattes dasselbe. Das ganze ist übrigens keine balkanische Spezialität.Bin ich nun, Herr Thierse, nach dieser Feststellung, die nach meiner Kenntnis sachlich ist, wenn auch nicht kalten Blutes (muß ich es öffentlich tropfen lassen? ) - bin ich nun ein Subjekt, das »jämmerliches Stillschweigen« bewahrt, anstatt als staatlich anerkannter Menschenrechtler alle meine Flüche gegen Milosevic und nur gegen Milosevic zu schleudern? Wohin sind wir gekommen? Wollen Sie aus dieser Ecke nicht wieder heraus, geschätzter Herr Thierse?Wer vor dem Eingreifen der NATO warnte, der war nicht blind für böses serbisches Wüten im Kosovo. Freilich war er ebenso wenig blind für das - damals noch unterlegene - Wüten von Kosovo-Albanern.Und die Warnenden verschlossen auch nicht die Augen vor dem Irrwitz ihrer westlichen Herrschaften, die vorgaben, binnen kurzem, nämlich in der Spanne eines einseitigen Luftkriegs, der doch nur die klassische Kanonenbootpolitik abgelöst hat, in einer Region Demokratie zu stiften, der dazu alle Voraussetzungen fehlen.Auch hatten jene, die vom Krieg der NATO abrieten, begriffen, daß unter den im Kosovo herrschenden Gegebenheiten die Durchsetzung bestimmter Menschenrechte eine Politik war, die ganz und gar aufs Abstrakte zielte und daher nichts anderes war als ideologisch. Ich bitte um Ihren begründeten Widerspruch, Herr Thierse.Je deutlicher die Fehler und Versäumnisse der westlichen Regierenden und ihrer Medien wurden (einige Medien kommen allmählich zur Besinnung), um so bösartiger wurden Widersprechende des »jämmerlichen Stillschweigens« zu Milosevic bezichtigt; der doch, ich riskiere es: der doch gewiß nicht der Alleinschuldige am Elend im Kosovo ist. Wer trägt die Schuld, die Frage fällt mir ein, an den nachhaltig bösartigen Umweltverbrechen an den unglücklichen Kosovaren?Ich bin übrigens kein Pazifist - mit welcher Klarstellung ich bei dieser Gelegenheit ein für alle mal verhindern will, wie Pazifisten gewöhnlich als achtenswerte Naive aus der öffentlichen Debatte eliminiert zu werden.Es sind wieder Geßler-Hüte in Deutschland aufgestellt worden; diesmal mit Flüchen gegen Milosevic, der durchaus ein politisches Monster ist, auf den Hutbändern. Man muß die Hüte unterwürfig grüßen, bevor man allenfalls zur Sache kommen kann. Dann ist einem der Mund schon halb gestopft. Eine ablenkende Stimmungsmache begrenzt die politische Vernunft und das pflichtgemäße, ungenierte öffentliche Kritisieren möglicher politischer Fehlentwicklungen. Lieber Herr Thierse, diese Hutmode steht Ihnen nicht.Wir haben seit längerem eine Verabredung für ein gründliches privates Gespräch. Ich würde ihr, gerade nach diesem Brief, gern folgen.Für heute bin ich, mit guten Wünschen, Ihr Günter Gaus.
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