Als Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) unlängst einer Hamburger Wochenzeitung mitteilte, er schäme sich »für dieses Land«, war nicht von der Bundesrepublik die Rede, sondern ausschließlich von deren Osten. Niemand wird in Zweifel stellen, dass die rechtsradikalen Gewaltexzesse, die feigen Angriffe auf Ausländer und sozial Schwache zwischen Rügen und Thüringer Wald besonders grauenhaft sind, aber ebenso kann niemand die politische Gesamtverantwortung für solche Zustände ignorieren. Deutschlands Osten ist weder ein Jurassic-Park noch ein Bestiarium, er ist auch keine Sonderzone, wie er vor allem von 68ern gern in der absondernden Sprache des Kalten Krieges genannt wird. Er ist seit zehn Jahren Teil der Bundesrepublik und ein
ein Landstrich, dessen Jugend durch den gesellschaftlichen Umbruch in größeren Teilen völlig aus der Bahn geworfen ist. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) hat deshalb zu Recht von einem gefährlichen Frustpotenzial gesprochen, das sich dort unter jenen Jugendlichen angesammelt hat, die sich laut Umfragen immer noch als zweitklassige Deutsche empfinden. In einer Öffentlichkeit, die sich aus Auf- und Absteigern, aus Gewinnern und Verlierern der Woche in einer top- oder flop-Gemeinschaft definiert, scheinen deshalb der Fausthieb und der Fußtritt ebenso erbärmliche wie hilflos-aggressive Argumente zur eigenen Aufwertung zu sein.Und dennoch: Wolfgang Thierses so flehentlich eingeforderte Zivilgesellschaft wird auch für den Osten nicht vom Himmel fallen, sie ist eben in den Tagen der Wende 1989 nicht das gewünschte Ziel gewesen, als es zwar eine gewaltige Strömung gegen die sozialistische Ordnung gab, aber ein Sehnen nur für den westlichen Lebensstandard, nicht für seine Institutionen und Werte. Diese Diskrepanz mag etwas von jener Gleichgültigkeit der Ostdeutschen erklären, die immer noch Probleme damit haben, im neuen Deutschland »anzukommen«, und das im doppelten Sinne des Wortes. Die dumpfe Orientierungslosigkeit zahlreicher Jugendlicher, deren Angst vor irgendeinem Mirko oder Marko aus der eigenen Gang größer ist als vor Polizei und Justiz, wenn es gegen Fremde geht, wäre dennoch nicht denkbar ohne die politische Abstinenz und das mangelnde Engagement ihrer zumeist arbeits- und perspektivlosen Eltern. Der moralische Zeigefinger, der drohend aus dem Westen auf solche trüben Verhältnisse gereckt wird, ist allerdings ziemlich selbstgerecht, weil es vergleichbare gesellschaftliche Umbrüche dort nicht gegeben hat. Zum Glück.Der bodenlos scheinende Ausländerhass der Glatzen ist ideologisch leider fest im konservativen deutschen Denken verwurzelt, eine ebenso traurige wie nötige Feststellung. Die DDR war, ungeachtet ihrer lähmenden Verhältnisse, die nach Veränderung drängten, dennoch ein linkes Projekt. Wer sie abschaffte, geriet in ein anderes Koordinatensystem. Und das Gegenteil von links war damals für viele Jugendliche rechts. Vielleicht waren vor allem sie deshalb nach der Wende derart anfällig für die Rattenfänger aus Hamburg, München und Westberlin, die Kühnens, Freys und Worchs, für deren Wirken sie ebenso wenig verantwortlich sind wie für den Druck von Landserheften oder die rassistischen Websites im Internet.Was ist zu tun? Belehrung hilft wenig, Erziehung durch Beispiele mehr. Weshalb die Botschaft aus Potsdam, dass ein Dutzend Fahrgäste einer Straßenbahn zwei afrikanische Jugendliche gegen rechte Schläger in Schutz nahmen, hoffnungsvoll ist. Widerstand gegen Rassisten muss in erster Linie aus den betroffenen Orten erwachsen, Rezepte von nebenan können hilfreich sein, lösen aber die Probleme nicht. Dennoch ist der Kampf gegen Rechts gesamtdeutsche Aufgabe, er muss sich gegen Willkürakte in ostdeutschen Kleinstädten und Dörfern genauso richten wie gegen die anonymen fremdenfeindlichen Attacken in westdeutschen Großstädten wie Ludwigshafen oder Düsseldorf. Weder darf es »befreite Zonen« im Osten geben noch von Rechten so genannte ZOR (zionist occupied regions) im Westen, beispielsweise in Schleswig-Holstein, wo ein Gewerkschaftsfunktionär faschistischen Morddrohungen ausgesetzt ist. Osten ist überall. Wie wäre es deshalb, wenn die tapferen Bürgerrechtler aus einstigen Herbsttagen einen Moment lang ihre Köpfe aus den Aktenbergen höben, um sich öffentlich in den Kampf gegen rechte Gewalt einzumischen? Wie wäre es, wenn in Talkshows von ARD und ZDF zum Thema Gewaltphänomene nicht ausschließlich Westler über den Osten, sondern auch mit ihm redeten? Ungeachtet dessen, dass Gregor Gysi, Bärbel Bohley oder Heinz Eggert vielleicht gerade im Urlaub sind.