Ostukraine Bisher hat die Genfer Diplomatie den Aufstand im Osten nicht eingedämmt. Eine Teilung des Landes wird wahrscheinlicher. Kiew ruft die Berkut-Leute zurück
„Stell den Motor ab. Auf wen wollt ihr schießen?“ schreien die Männer des örtlichen pro-russischen Selbstschutzes den Soldaten im ukrainischen Panzer zu. Auch ein paar weniger martialisch aussehende Bürger bevölkern die Szene. Wenn das hier eine Anti-Terror-Aktion ist, dann hat sie jedenfalls keine Angst einflößende Wirkung. Der Tank operiert am Rande der ostukrainischen Stadt Rodinskoje – ein Ort, nicht weit von Slawjansk, wo seit 14 Tagen Aufständische die Gebietsverwaltung wie Polizeistation besetzen. Etwa 50 bis 60 Männer beobachten den qualmenden T 64, ein gelber Niva-Geländewagen stellt sich immer wieder quer vor den Stahlkoloss und versucht, auf diese Weise das Monstrum aus Sowjetzeiten zu stoppen.
Waffen haben die
Waffen haben die Männer nicht, zumindest sind keine zu sehen. Der Fahrer des Panzers will ausweichen, er setzt das Ungetüm vor und zurück, steckt kurz in einem Graben fest, kreuzt eine Straße, fährt schließlich auf ein Feld und stellt den Motor ab. Die Leute vom Selbstschutz bombardieren die Soldaten mit Fragen. „Wie lautet euer Befehl? Wohin wollt ihr genau? Wer kommandiert euch?“ Die Besatzung antwortet nicht. Es wirkt so, als wüssten die Soldaten selbst nicht genau, wie es sie in diese Gegend verschlagen konnte. Zuweilen führen solche Debatten zur Kapitulation ukrainischer Einheiten wie vor der Stadt Artjomowsk, als eine Gruppe Nationalgardisten vom Lastwagen absteigen und die Waffen abgeben muss. Mangelt es den ukrainischen Militärs an Kampfmoral und Entschlossenheit? Die Abwehr eines Angriffs auf die Militärbasis in Mariupol in der Nacht zum 18. April, als drei pro-russische Aktivisten ums Leben kommen, bezeugt das Gegenteil. Andererseits, wer möchte schon für eine Julia Timoschenko sterben, die als Gas-Prinzessin reich wurde und nun vollmundig eine „Volkswehr gegen die russische Aggression“ fordert? Waffen und AktenMoskau wird unterstellt, es wolle sich nach der Krim nun die Ostukraine einverleiben. Tatsächlich? Wozu eine solche Problem-Region in die Russische Föderation aufnehmen, könnte man sich im Kreml fragen. Die pro-russischen Protestler im Donbass und anderen Gebieten bilden keine Mittelstands-Bewegung für faire Wahlen, Verfassungsreformen und mehr Nähe zur EU. Vielmehr sollen durch ihren Widerstand Arbeitsplätze, Löhne und sozialen Leistungen geschützt werden. Deshalb könnten die Aktivisten in den Weiten Russlands, wo es nicht an sozialen Brennpunkte fehlt, durchaus Nachahmer finden. Wäre das dem Kreml genehm? Den Aufstand als Produkt russischer Geheimdienstarbeit einzustufen klingt so falsch, wie den Maidan ein Werk des CIA zu nennen. Beide Protestszenen – die im Westen wie die im Osten – haben vorrangig soziale Ursachen. Und woher sollen die vielen Moskauer Agenten und getarnten Soldaten denn kommen? Die Grenze ist für russische Männer so gut wie dicht – der ukrainische Grenzschutz hat seit dem 1. April etwa 12.000 Bürgern des Nachbarstaates eine Einreise verweigert. Die in Moskau erscheinende Rossiskaja Gaseta berichtet, viele ihrer Journalisten hätten nur unter Vorwänden die Ukraine erreichen können, unter anderem getarnt als Teilnehmer einer Schulung für Führungskräfte der Wirtschaft.Im Donezk-Gebiet kommt es in der Altstadt von Kramatorsk am Morgen des 17. April zu ähnlichen Szenen wie in Rodinskoje. Tausende von Anwohnern umringen 15 ukrainische Schützenpanzerwagen, die versuchen, sich mit Warnschüssen einen Weg durch die Menge zu bahnen – ohne Erfolg. Ob sie gegen friedliche Bürger kämpfen wollen, wird den Soldaten zugerufen. Einer mit schwarzer Wollmütze schreit zurück, man wolle doch gar nicht Kramatorsk einnehmen, sondern fahre von Punkt A nach Punkt B, um an einer Militärübung teilzunehmen. Es herrscht viel Aufregung in Kramatorsk, doch entladen sich weder Hass noch Gewalt. Im Gegenteil, eine junge Frau ruft in Richtung der Militärs: „Kinder, wollt ihr Piroggen und Salzgurken?“ Gleich springt ein ukrainischer Soldat von seinem Panzer und nimmt ihre Tüte mit einem „Spasibo“ entgegen. Bald türmen sich auf allen Fahrzeugen Kartons mit Essen und Eingemachtem, das die Anwohner verschenken. Die Fürsorge zeigt Wirkung, die Soldaten nehmen schließlich die Magazine aus ihren Kalaschnikows. Die versammelten Frauen scheinen begeistert. „Molodzy“! (Prachtkerle) rufen einige. Die ukrainischen Soldaten dürfen sich dann in einem Saal des Stadtrates ausruhen. Sie sollen selbst entscheiden, ob sie zur aufständischen Donezk-Armee überlaufen oder als Zivilisten ihrer Wege gehen. Augenscheinlich hat es im Hintergrund Gespräche mit Kommandeuren der Donezk-Armee gegeben. Im Ergebnis wechseln sechs ukrainische Schützen-Panzer den Besitzer, ohne dass ein Schuss fällt. Was in Kramatorsk geschieht, ist kein Einzelfall. Je mehr Militär die Kiewer Übergangsregierung in den Osten schickt, desto entschiedener halten die Aufrührer aus. Deren Wut entzündet sich zwischenzeitlich auch daran, dass ihnen vor Ostern die russischen Fernsehkanäle abgeschaltet wurden. Warum bringt Kiew einen Teil des Landes so gegen sich auf? Will man sich am Donezker Revier die Zähne ausbeißen? Die Region bleibt auch nach der „Genfer Vereinbarung“ Zentrum des Widerstandes. Seit dem 12. April kontrollieren die Aufständischen Verwaltungen und Polizei-Zentralen in mehr als zehn Städten, die sich inzwischen als „Donezk-Republik“ verstehen. „Besonders die Polizei geht ohne merklichen Widerstand auf die Seite des Protestes über“, schreibt die Kreml-kritische Novaya Gazeta. „Die Mitarbeiter des Geheimdienstes ziehen es vor, ihre Posten still zu verlassen – sie behalten die Waffen und nehmen die Akten mit.“ Berkut wieder im Dienst? Sei Beginn der Anti-Terror-Operation ist die Zahl der Toten in der Ostukraine spürbar gestiegen. Auch daran kann Genf nichts ändern. Kurz vor Morgengrauen sterben am Ostersonntag beim Anschlag auf einen Kontrollpunkt nördlich von Slawjansk fünf Aufständische. Auch zwei der Angreifer werden getötet. Wjatscheslaw Ponomarjow, gewählter „Volks-Bürgermeister“ der Stadt, verlangt nach dem Zwischenfall, Russland solle ein Friedenskorps zum Schutz der Bevölkerung schicken. Mutmaßlich ging der Angriff von einem Kommando des Rechten Sektors aus, dessen Symbole sowie Karten von Slawjansk gefunden wurden. Kiew dementiert – in jener Nacht hätten kriminelle Gangs aufeinander geschossen.In dieser Situation kann es kaum noch verwundern, dass nun selbst die Mitglieder der aufgelösten Sondereinheit Berkut, die von der neuen Kiewer Macht bisher als Mörder geächtet wurden, vom ukrainischen Innenminister aufgerufen worden sind, wieder in den Dienst zurückzukehren – das Vaterland sei in höchster Gefahr. Da muss jemandem das Wasser bis zum Halse stehen.Die entscheidende Frage bleibt, schaffen es die auf Unabhängigkeit und Autonomie bedachten Kräfte am 11. Mai in der Ostukraine ein Referendum abzuhalten? Haben sie die nötige Infrastruktur und den Rückhalt in der Bevölkerung? Oder wird es am Tag der vorgezogenen Präsidentenwahl am 25. Mai ein Plebiszit im ganzen Land über mehr Föderalismus geben, wie es Übergangspräsident Alexander Turtschinow angedeutet hat. Bisher verweigern sich die Führer der Protestbewegung einer solchen Option. Ohnehin meinte es Turtschinow mit dieser Offerte offenbar nicht allzu ernst, da er zeitgleich seine Anti-Terror-Operation befahl. Der westlich orientierte Moskauer Kommersant ist der Auffassung, Kiew habe weder „einen klaren Plan noch das nötige Militärpotenzial, das zur Neutralisierung „der Volksarmee“ im Osten nötig sei. Werde deshalb auf eine Eskalation durch provokative Militärmanöver gesetzt, um den Konflikt auf diese Weise zu internationalisieren und die NATO in Zugzwang zu bringen. Als einzige Lösung biete sich nur die Teilung der Ukraine in ein größeres westliches und ein kleineres südöstliches Territorium an. So könnten immerhin Menschenleben gerettet und ein Bürgerkrieg verhindert werden.
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