Wenn gegen Abend die letzten müden Sonnenstrahlen über die Gebirgszüge kriechen, um die holzvertäfelten Häuserreihen in Dämmerlicht zu tauchen, wirkt Bergen wie eine weichgezeichnete Fototapete. Die zweitgrößte Stadt Norwegens gleicht einem pittoresken Puppenheim: entzückend, keimfrei, bieder. Man kann sich in diesem Moment nur schwer vorstellen, dass das der kulturelle Hotspot Skandinaviens sein soll. Ebenso schwer kann man sich vorstellen, wie sich in diesem Postkartenambiente ein Festival für zeitgenössische Kunst ausnehmen soll.
Suchten Standortpolitiker nach einem kulturellen Aushängeschild für die 280 000-Einwohner-Stadt, beschloss man 2007 die Organisation einer internationalen Kunstschau. Herausgekommen ist dabei nun
Herausgekommen ist dabei nun die erste Ausgabe der Bergen Assembly, eine üppig finanzierte Triennale, die unter dem Motto Monday begins on Saturday am 31. August ihre Tore öffnete. Den Titel haben die Kuratoren Ekaterina Degot und David Riff, die beide an der Moskauer Rodtschenko-Schule für Fotografie und Multimedia lehren, dem sowjetischen Science-Fiction-Klassiker der Gebrüder Arkadi und Boris Strugatzki entlehnt.Der 1965 veröffentlichte Roman handelt vom jungen Wissenschaftler Sascha, den es ans „Naturwissenschaftliche Forschungsinstitut für Magie und Zauberei“ im nordrussischen Karelien verschlägt. Die neo-leninistisch imprägnierte Satire entwirft unterschwellig die Utopie einer dionysischen Wissensproduktion, die keine Aktenordner füllt, sondern Metastasen des Begehrens treibt.Norwegischer Petro-SozialismusIndem Degot und Riff sowjetische Science-Fiction in die norwegische Komfortzone verlegen, gelingt ein kuratorisches Glanzstück. In Anlehnung an den Roman der Strugatzkis firmiert Kunst hier nämlich als magische Forschungsarbeit, als engagierte Versuchsanordnung auf der Suche nach einem Quantum politischen Glücks. Deshalb werden die elf Ausstellungsorte auch als künstlerische Laboratorien („Institute“) präsentiert. Der eigentliche Clou des literarischen Assoziationsspiels besteht aber darin, dass es eine permanente Kommunikation zwischen den beiden großen Themen der Triennale ermöglicht. Es erlaubt die diskursive Verschränkung des norwegischen State of the Art mit dem historischen Erbe des (post-)sowjetischen Komplexes. Als Ende der sechziger Jahre die immensen Öl- und Gasvorkommen in Norwegen entdeckt wurden, entwickelte sich im vormaligen Armenhaus Europas eine Art nordischer Petro-Sozialismus. In Verbindung mit dem skandinavischen Gemeinschaftsgefühl verwirklichte sich hier, so die pointierte These von Degot und Riff, folglich jener Sozialismus mit menschlichem Antlitz, dem sich auch die Strugatzki-Brüder verpflichtet fühlten. Ähnlich wie in der UdSSR erzeugt die massive Subventionierung des Kulturbetriebs bisweilen politische Abhängigkeiten und latenten Konformitätsdruck. Diesen Aspekt greift das russische Künstlerkollektiv Chto Delat mit seinem wunderbaren Film A Border Musical auf. In dem Brecht'schen Singspiel wird sarkastisch illustriert, wie eine kommunitaristische Konsenskultur in sozialen Kontrollwahn kippt. Implosion politischer SystemeDie Bergen Assembly beschränkt sich aber nicht nur auf norwegische Selbstreflektionen. Der größte Teil der insgesamt überaus filmlastigen Triennale widmet sich einer assoziativen Aktualisierung der (post-)sowjetischen Erfahrung von Auf- und Zusammenbruch. Und zeichnet sich die Implosion politischer Systeme ja immer an den Peripherien ab, ist es vor allem das Ausfransen der gesellschaftlichen Ränder, das hier verstärkt in den Blick gerät. Ein äußerst tragisch-komisches Beispiel dafür findet sich im „Institut für imaginäre Staaten“. Die Künstlergruppe IRWIN rief 1992 den imaginären NSK-Staat aus und fertigte in den Wirren nach der Wende in Druckereien des slowenischen Innenministeriums entsprechende Pässe an. Obwohl die Website der Gruppe genau erklärt, dass es sich um keinen echten Staat handele, bekamen die Macher von IRWIN Mitte der 2000er Jahre täglich bis zu 1000 Pass-Bewerbungen aus Nigeria. Dort hatte die irrige Aussicht auf eine europäische Staatsbürgerschaft die Runde gemacht. Einige Mitglieder des Künstlerkollektivs flogen daraufhin nach London, um Bewerbern persönlich ihre Pässe zu überreichen, sie aber auch über das Projekt aufzuklären. Schaut man sich nun die Videoaufzeichnungen dieser Gespräche an, folgt man gebannt den Reaktionen der Nigerianer und staunt, welche Wunschökonomien buchstäblich verkannte Kunst zu entfesseln vermag. Abgegriffene Kapitalismus-KritikObschon einige Arbeiten der rund 50 ausstellenden Künstler als allzu abgegriffene Kapitalismuskritik daherkommen, beispielsweise Christian von Borries irisierende, aber dennoch kraftlose „Science-Fiction-Dokumentation“ I'm M, bleibt bemerkenswert, wie thematisch dicht und kuratorisch stimmig sich die Bergen Assembly präsentiert. Im „Institut für lyrische Soziologie“ findet sich mit Josef Dabernigs melodramatischer Miniatur Hypercrisis noch eine ganz besondere Perle. Der in Armenien gedrehte Kurzfilm erzählt von einem schreibgehemmten Autor, der als letzter Patient in einem ehemaligen Erholungsheim umherirrt. In einer Tarkowski'esquen Atmosphäre setzt Dabernig die neomodernistische Architektur des maroden Gebäudes dabei derart virtuos in Szene, dass eine präzise choreographierte Parabel über Behaarung und Zerfall entsteht, die wie ein ästhetisches Konzentrat der gesamten Triennale wirkt. Man wünscht sich, dass manche „Institute“ nach dem Ende der Schau weiterleben. Gerne auch in Deutschland. Denn eins hat der aktuelle Bundestagswahlkampf ja bewiesen: Der Forschungsbedarf in puncto politischer Magie ist hierzulande noch immens.