Tatort S-Bahn Erst essen die Sprayer eine Tüte Chips, dann machen sie sich ans Werk. Am Ende ist im Jahr 1985 erstmals in Deutschland ein Zug in voller Länge mit Graffiti besprüht
Es gibt ein Foto, das sechs Jugendliche nachts in einem S-Bahn-Wartehäuschen zeigt. Sie tragen knöchelhohe Turnschuhe, dicke Jacken und Jeans. Fünf Taschen stehen herum. Einer macht ein Victory-Zeichen, einer hebt den Daumen. Der siebte aus der Gruppe, der sich Cheech H nennt, hat auf den Auslöser gedrückt. Dieses Foto, das man in einer Streetart-Galerie im Internet findet, trägt den Titel Geltendorf, 1985 und den Untertitel Mission accomplished. Es erzählt von sieben Jugendlichen, die gerade Geschichte geschrieben haben: Sie hinterließen den ersten Wholetrain in Deutschland – zum ersten Mal wurde ein Zug in voller Länge mit Graffiti besprüht, von einem Ende zum anderen, im Jargon: End-to-End. Jetzt warten die sieben auf die ers
erste S-Bahn, die sie vom Tatort wegbringen soll – das Foto gehört in ein Museum der Jugendkulturen.Es war nicht das erste Graffito dieser Art in Deutschland, das allererste entstand spätestens 1984, aber in Geltendorf war erstmals die gesamte Länge eines Zugs erfasst. Cheech H, Don M. Zaza, Cryptic2, Roscoe, Roy, Zip und Blash – so nannten sich die sieben Sprayer – wählten einen Zug der Münchner S-Bahn-Linie 4, die in Geltendorf endet. „Wir wollten was Rollendes“, sagt heute der Mann, der damals Cryptic2 war. Mathias Köhler wurde 1985 von einem Jugendrichter verurteilt. Er und die sechs anderen – alle zwischen 16 und 18 – waren als Urheber des „Geltendorfer Zugs“ zu Szeneruhm gelangt.Es ist eine Mutprobe ... Irgendwann seien sie von zwei anderen Writern, die gerade Ärger mit der Polizei hatten und „uns in Neid oder Hass verbunden waren“, verpfiffen worden, erinnert sich Köhler. 4.000 Mark habe er zahlen und etwa 100 Sozialstunden leisten müssen. Seine Mutter habe die Strafe „eine Investition in die Zukunft“ genannt. Heute, 25 Jahre später, hat es Köhler unter dem Namen Loomit längst zu großer Bekanntheit als Graffitikünstler gebracht. Mit 42 unternehme er keine „Ausflüge in die Illegalität mehr“, werde stattdessen eingeladen, vom Goethe-Institut zum Beispiel. Warum einen Zug illegal besprühen, wenn es auch irgendein unbewachtes Garagentor hätte sein können? Grund eins: „Purer Spaß.“ Außerdem: „30 Prozent der Leute gehen in Galerien“, sagt Köhler, was man eine großzügige Schätzung nennen darf, „aber 100 Prozent sehen Graffiti.“ Jedenfalls wenn die Graffiti sich auf Zügen befinden, die durch eine Stadt rollen und dadurch „all city“ sind.Viel mehr als eine Mauer befördert ein Zug, wenn er als Sprühfläche dient, Graffiti zu einer großflächig sichtbaren Mutprobe. Und auch darum geht es – nicht nur um eine künstlerische Ausdrucksform, auch um Kommunikation mit anderen Writern. Je riskanter das Unterfangen, je schlechter die Fluchtmöglichkeiten, je besser und größer die Writings an möglichst sichtbaren Orten, desto größer der Ruhm. Nur eine Flotte Polizeiautos flächendeckend einzusprühen und hinterher noch zu fotografieren, erschien eine Zeitlang gewagter, als „auf Züge zu gehen“.Das Graffiti-Writing ist in seiner hauptsächlich praktizierten Form illegal, um so mehr wurde der besprühte Wholetrain innerhalb der Szene besonders statusstiftend. Das war in Bayern so wie in New York, wo 1971 das erste Graffito im Hiphop-Stil wahrgenommen wurde. Das – im Jargon – „Bombing“ des „Geltendorfer Zugs“ in einer Märznacht des Jahres 1985 begründete das Spannungsverhältnis von Szeneruhm und Bullenstress in Deutschland maßgeblich mit.Es war ein Freitag, und die Nacht begann mit einer Tüte Kartoffelchips. Die sieben Sprayer aßen, froren bei zweistelligen Minusgraden und beobachteten das S-Bahn-Depot in Geltendorf. Es hatte seinen Grund, warum sie dieses Depot gewählt hatten: Es war groß, man konnte es gut beobachten, es lag neben einem Wäldchen und großen Feldern, über die man sich unauffällig heranmachen konnte. Und doch betrat die Gruppe Neuland. „Wir wussten absolut nicht, was da in so einem Yard vor sich geht“, erzählte Don M. Zaza, einer von ihnen, 1986. „Werden die Züge bewacht und kontrolliert? Wird in der Nacht rangiert? Sind da Gleisarbeiter? Putzkolonnen? Offene Kabel?“Erst als die Sprayer einigermaßen sicher waren, dass niemand mehr bei den Zügen war – es dürfte gegen halb zwei gewesen sein – legten sie los. Die Bahn tat ihnen den Gefallen, eine Flutlichtanlage eingeschaltet zu lassen, vielleicht, damit niemand in der Dunkelheit auf die Idee käme, einem Zug näher zu treten. In knapp zwei Stunden versahen sie – unter Flutlicht – eine blaue S-Bahn ohne Werbeaufschriften auf 53 oder 56 Meter Länge (die Quellen sind nicht eindeutig in diesem Punkt) mit ihren Pieces.... und eine HerrschaftsfrageDann machten sie sich davon. Eine Station weiter stadteinwärts, am Bahnhof Türkenfeld, warteten sie auf die erste S-Bahn, fuhren 15 Stationen bis zum Karlsplatz und saßen eine Weile herum. Sie wollten den bemalten Zug fotografieren, wenn er irgendwann käme – und warteten vergeblich. „Wir hätten das ganze Wochenende weitermachen können“, sagt Mathias Köhler heute, „es wäre nicht aufgefallen“. Die Graffiti wurden erst zwei Tage später entdeckt und schließlich für rund 6.000 Mark entfernt. Bevor der Zug gereinigt wurde, besichtigten ihn noch Polizei und Presse. Köhler nennt das heute: „Ein großes Hallo“.Die Schlagzeile der Münchner Ausgabe einer Boulevardzeitung lautete: Sprühkünstler beschmieren S-Bahn! Keine schlechte Zeile. Weil sie abbildete, worum es unter der Oberfläche ging: um eine Herrschaftsfrage.Die Sprayer nutzen öffentliche Flächen, wollen aber vorher nicht um Erlaubnis bitten. Sie werden in Stadtlandschaften sichtbar, in denen sie sonst anonym geblieben wären. Was nur geht, wenn Regeln überschritten werden – sonst schaut niemand hin. Die Zerstörung formatierter Flächen und des „einheitlichen Erscheinungsbilds“ der Züge, das die Bahn propagiert, war so von Anfang an kein Nebeneffekt jugendlicher Kreativität, sondern zentrales Motiv. Die Idee der Abgrenzung von bürgerlichen Identitäten findet man immer wieder in der akademischen Graffiti-Literatur.Der „Geltendorfer Zug“ – bemalt unter anderem mit einem riesigen Krokodil und einem Pin-up-Girl – setzte dabei 1985 durchaus Maßstäbe. Die Münchner Abendzeitung schrieb, es handle sich um „Münchens größtes Gemälde“. „Die waren schon der Meinung, dass wir uns Mühe gegeben hätten“, sagt Köhler – und doch wussten die lokalen Blätter nicht so recht, wie sie mit Graffiti umgehen sollten: Das Wort „Gemälde“ stand in Anführungszeichen genau wie die Worte „Künstler“, „Kunst-Aktion“, „Malerei“, und „Kunstwerk“. Nicht in Anführungszeichen stand dagegen das Wort Farbanschlag, was nur beweist, dass das „Bombing“ eines Zugs auch als „Bombing“ ankam.Die Zerrissenheit im Umgang mit Graffiti existiert bis heute, und sie äußert sich in Entkriminalisierung einerseits und Durchgreifen andererseits. Zum einen stellen Städte Wände zur Verfügung, die legal besprüht werden können, und bedienen das „Flair des Großstadtdschungels“ mit seiner besonderen Aura von Kreativität. Zum anderen ist schnell von Vandalismus die Rede, wenn dieselben Jugendlichen, die tagsüber legal üben dürfen, nachts unautorisiert weitermachen, und sich ihre Pieces nicht exakt so ins Stadtbild einfügen, wie zuvor offiziell abgesegnet. Es handelt sich um die gleiche Zerrissenheit, die den Umgang mit vielen subkulturellen Strömungen geprägt hat. In den siebziger Jahren etwa war – bisweilen sogar in ein- und derselben Ausgabe einer Zeitung – zugleich von avantgardistischer Punk-Mode und von ungeduschten Punk-Gammlern die Rede.Die Deutsche Bahn jedenfalls ist bis heute bei der Interpretation – Graffiti auf Zügen seien Anschläge – geblieben. Die Entfernung von Graffiti wird aus dem Fonds für Vandalismus-Schäden bezahlt, aus dem auch die Kosten für zerschnittene Sitze und eingetretene Türen bestritten werden. Die „Schadensintensität“ der „Delikte“, heißt es bei der Bahn, sei insgesamt größer als früher. Für die einen sind es Delikte, für die anderen Graffiti. Seit ziemlich genau einem Vierteljahrhundert.
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