Wenn die deutsche Politik ein Spielfilm wäre, dann würde das Drehbuch vom Bundestag verfasst. Die Aufnahmeleitung läge im Bundeskanzleramt. Die Regie käme dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu. Gemeinhin hält man Regisseure für Menschen, die ständig alles steuern wollen. Doch das ist ein Klischee. In der Regel spricht die Regie mit wenigen, und wenn sie sich einmischt, dann hat sie scheinbar sofort weitreichende Vollmachten. Sie darf das Drehbuch interpretieren. Sie hält die Dreharbeiten an und setzt sie mit neuen Vorgaben wieder fort. Sie prescht plötzlich vor und zieht sich dann wieder zurück. Ähnlich verhält sich das Bundesverfassungsgericht.
In der kommenden Woche wird es wieder großes Kino in Karlsruhe geben. Am 12
ben. Am 12. September entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob die Verträge zur Rettung des Euro gegen das Grundgesetz verstoßen. Es geht dabei um die Frage, ob die Verträge die Rechte des Bundestages und das Demokratieprinzip verletzen. Denn sie räumen der EU weitreichende Eingriffsrechte in den deutschen Haushalt ein. Und das war bisher immer das Königsrecht der Bundestagsabgeordneten. Vielleicht machen die Verfassungsrichter aus dem Stoff ein Drama und erlauben den Vertrag. Oder gibt es doch ein Happy End?Dass die Richter mal selbstbewusst auftrumpfen, um sich dann wieder betont zurückzuhalten, hat schon die ersten Jahre des Gerichts geprägt. Bei der Debatte um die Wiederbewaffnung deklamierte sich das Bundesverfassungsgericht selbst zum Verfassungsorgan und überließ dann doch die Entscheidung über die deutschen Waffen der Politik. In den sechziger Jahren kassierte es Kanzler Konrad Adenauers Idee eines staatsnahen Bundesfernsehens. Der „Alte“ tobte und ließ sein Kabinett einstimmig beschließen, die Entscheidung des Karlsruher Gerichts sei falsch. Karlsruhe aber erklärte durch seinen Präsidenten Gebhard Müller, kein Verfassungsorgan sei befugt zu beschließen, ein Spruch des Bundesverfassungsgericht entspreche nicht der Verfassung.Hüter der StaatlichkeitIn den siebziger Jahren kassierte Karlsruhe gleich ein Projekt der sozialliberalen Koalition nach dem anderen. Die Wehrdienstnovelle, die Reform des Abtreibungsparagrafen und die Hochschulmitbestimmung wurden gekippt, und auch der Grundlagenvertrag geriet ins Straucheln. Bei ihm verlegte sich das Gericht mit viel argumentativer Kraft auf die Behauptung, dass es über die Frage der deutschen Wiedervereinigung entscheidend mitzubestimmen habe. Doch der konkrete Weg zur Wiedervereinigung sei eine politische Frage, die man der Politik überlassen müsse. Schon damals usurpierte das Gericht politische Macht, die es jedoch fortan nur zögerlich oder gar nicht ausübte.Vorpreschen und Zurückhalten war auch seit jeher die typische Vorgehensweise des Gerichts bei der Gestaltung der europäischen Einigung. Mitte der siebziger Jahre wurde Karlsruhe eine EG-Verordnung zur Prüfung vorgelegt. Ein seltsamer Fall. Denn nach Artikel 100 des Grundgesetzes darf das Verfassungsgericht lediglich deutsche Gesetze überprüfen. Doch die Richter bejahten die Zulässigkeit der Vorlage mit der Begründung, dass die deutsche Staatsgewalt das Gemeinschaftsrecht auszuführen habe und dabei zugleich an die Grundrechte gebunden sei. Solange ein vergleichbarer Grundrechtsschutz in Europa nicht existiere, werde das Gericht europäische Normen auf deren Vereinbarkeit mit den deutschen Grundrechten überprüfen. Das angegriffene Regelwerk ließ das Bundesverfassungsgericht passieren.Die Selbstermächtigung wurde als „Solange I Entscheidung“ bekannt. Zwölf Jahre später nahm sich Karlsruhe in der „Solange II Entscheidung“ wieder zurück. Man wollte nun auf die in den siebziger Jahren geschaffene Selbstermächtigung solange verzichten, wie in der europäischen Gemeinschaft ein ähnlicher Grundrechtsschutz herrsche wie in der Bundesrepublik. Erst hatte das Gericht sich für den Regelfall eine Prüfungskompetenz für Gemeinschaftsrecht zuerkannt. Nun verwandelte es diese Regel im Wege der Selbstermächtigung in eine Ausnahme. Karlsruhe sah sich nun zurückhaltend als Ersatzgericht für den Grundrechtsschutz im Falle des Ausfalles vergleichbarer Garantien auf europäischer Ebene. Es dauerte nur drei Jahre bis zum nächsten Vorpreschen mit der Maastricht-Entscheidung.Neue Rolle für KarlsruheDer Vertrag von Maastricht sollte die Europäischen Gemeinschaften in die supranationale Europäische Union verwandeln. Die weitreichende Übertragung bundesdeutscher Hoheitsbefugnisse auf die europäische Ebene sorgte für Ängste und Klagen. Karlsruhe suchte sich wieder eine neue Rolle. Es stufte sich nun selbst als Kooperationsgericht neben dem Europäischen Gerichtshof ein. Man wolle gleichberechtigt neben diesem über den Grundrechtsschutz wachen, sich in Dialog mit diesem setzen.Einen europäischen Vertrag später, beim Regelwerk von Lissabon, gab sich Karlsruhe gar die Rolle des Hüters der bundesdeutschen Staatlichkeit. Die Richterinnen und Richter entdeckten den europafesten „unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes“. Der bundesdeutsche Spielfilm könne europäischer werden. Doch eben nicht unbegrenzt. Kernelemente der deutschen Staatlichkeit müssten auf nationalstaatlicher Ebene verbleiben. Unter der Geltung des Grundgesetzes waren die Vereinigten Staaten von Europa mit der Bundesrepublik nicht zu machen. In der Theorie hatte das Bundesverfassungsgericht damit eine wichtige Absicherung der Bürgerinnen und Bürger gegen die Verödung der Demokratie auf europäischer Ebene geschaffen. Konservative Kreise nannten das einen Verfassungsputsch aus Karlsruhe. Die Angst war unbegründet.Denn in der Praxis hielt sich Karlsruhe schnell wieder zurück. Das Bundesverfassungsgericht entnahm seiner eigenen Ermächtigung keinen Willen zum Gebrauch der Macht. Die Union wuchs und weitete ihre Befugnisse aus. Das europäische Demokratiedefizit blieb. Das europäische Parlament blieb weiter machtlos. Karlsruhe hätte also viele Fälle und Gründe gehabt, von den sich selbst eingeräumten Befugnissen kraftvoll Gebrauch zu machen. Doch das Bundesverfassungsgericht betätigte sich nicht einmal – wie angekündigt – als Kooperationsgericht zum Europäischen Gerichtshof. In einem astreinen Konfliktfall – im Mangold-Verfahren – räumten die bundesdeutschen Verfassungshüter den Luxemburgern sogar das Vorrecht ein und zogen sich demütig auf die Rolle eines Ersatzschiedsrichters zurück.Am 7. Dezember 2011 verwarf Karlsruhe die Verfassungsbeschwerden gegen die deutsche Zustimmung zum vorläufigen Rettungsschirm EFSF und das entsprechende deutsche Umsetzungsgesetz. Das Gericht nahm sich ungewöhnlich weit zurück. Es räumte ein, dass der EFSF die Haushaltsautonomie der ersten Gewalt beträfe. Doch sei das erst problematisch, wenn diese „Haushaltsautonomie jedenfalls für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe.“ Karlsruhe scheute plötzlich davor zurück, von der Macht (und der damit verbundenen Verantwortung), die es sich selbst eingeräumt hatte, auch Gebrauch zu machen. Stattdessen betätigte sich das Gericht als Gebrechlichkeitspfleger für ein überfordertes und hilfloses Parlament. Künftige Finanzhilfen koppelte das Gericht an die Bedingung einer stärkeren Beteiligung des Deutschen Bundestages. Das war ein verzweifeltes Unterfangen in einer parlamentarischen Demokratie, in der die Regierungsfraktionen ganz regelmäßig die Beschlussvorlagen der Regierung annehmen. Für sein eigenes Zurückweichen gab Karlsruhe damit nur eine schwache Kompensation.Urteile mit WeitblickNun hoffen viele doch noch auf ein „mutiges“ Vorpreschen der Verfassungshüter am 12. September, wenn sie über den Rettungsschirm ESM entscheiden. Karlsruhe hat immer noch einen Ruf zu verlieren. Die Richterinnen und Richter in den roten Roben haben Kruzifixe von bayerischen Schulwänden entfernt. Sie haben dafür gesorgt, dass in der Bundesrepublik Soldaten als Mörder bezeichnet werden dürfen. Sie haben schon in den frühen achtziger Jahren die Gefahren der EDV erkannt und ein informationelles Selbstbestimmungsrecht etabliert, das bis heute die staatliche Macht begrenzt. Sie haben die Pressefreiheit geschützt. Sie haben das Demonstrationsrecht immer wieder gestärkt. Sie haben vor Kurzem das soziale Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums geschaffen.Können solche Richterinnen und Richter zurückweichen, wenn es darum geht, die Demokratie davor zu bewahren, zu einem marktkonformen Konstrukt zu degenerieren? Ist es nicht vielmehr ihre Aufgabe, endlich dafür zu sorgen, dass die Märkte demokratiekonform werden? Denn das ist der Aufrag des Grundgesetzes, den Karlsruhe zu erfüllen hat. Ist es zu viel vom Verfassungsgericht verlangt zu verhindern, dass der Preis für Europa im Verlust des Wertesystems der Verfassung besteht?Viele hoffen, Karlsruhe möge eine politische Entscheidung treffen, die diese Entwicklung beendet. Doch das ist ein Missverständnis. Denn am politischsten war Karlsruhe, wenn es scheinbar darauf verzichtete, Politik zu machen, weil es die Politik gewähren ließ. Karlsruhe wird den ESM nicht aufhalten. Das zeigt die Analyse seiner Rechtsprechung. Karlsruhe begleitete die politische Entwicklung der Bundesrepublik eben genau wie die Regie einen Film. Eingriffe in das Drehbuch machen aus einer Tragödie noch keine Komödie oder umgekehrt. Regisseure können weder das Budget eines Filmes erhöhen noch neue Schauspieler einstellen. Halten sie ein Drehbuch von zweifelhafter Qualität in den Händen, dann bleibt ihnen nur der Weg, vom Set zu gehen oder das Beste aus diesem Drehbuch zu machen.Dauerkrise für alleGenau das hat Karlsruhe fast immer getan. Es hat mehr Freiheit gebracht, wenn die Unfreiheit überhandnahm. Es hat das Soziale gestärkt, wenn die Politik zu unsozial wurde. Es hat sich um Gewichtung bemüht, wenn Unwucht drohte. Um diese Justierungen vornehmen zu können, hat das Gericht immer neue Machtbefugnisse behauptet, die es dann allerdings nur zögerlich oder gar nicht gebrauchte. Denn es hat sich diese Befugnisse eigentlich nur gegeben, um mitreden zu können. Doch die „großen Taten“ im Guten wie im Bösen hat es immer der regierenden Politik überlassen. Es war eine „große Tat“ der Mehrheitspolitik, die Öffentlichkeit und die Medien glauben zu machen, dass in der Marktliberalisierung ein Segen für alle bestehe. Doch letztlich ist die Entfesselung der Märkte zur Dauerkrise für alle Marktteilnehmer geworden.Im aktuellen politischen Drehbuch ist festgehalten, dass die Stabilisierung der Märkte mit öffentlichen Mitteln und ohne nennenswerte Beteiligung der Banken zu bewerkstelligen sei. Karlsruhe wird dieses Drehbuch nicht völlig umschreiben. Es wird nur tun, was es immer tat: ein wenig vorpreschen und ein wenig abändern. Als die Politik Karlsruhe im Juli zu einer schnelleren Entscheidung drängte, da nahm sich das Gericht Zeit bis September. Es meinte damit: „Ruhe bitte. Wir drehen.“ Darin lag seine Machtansage.Der Gebrauch dieser Macht wird sich in einer Entscheidung erschöpfen, deren sanfte Korrekturen eine grob falsche Politik nicht maßgeblich verändern werden. Vielleicht wird das Gericht seine Gebrechlichkeitspflege gegenüber dem Parlament fortsetzen und ihm wiederum einen Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit weisen. Vielleicht wird Karlsruhe auch zeitliche Befristungen für die Hilfsmaßnahmen vorgeben. Doch eines werden alle Hoffenden umsonst in der Entscheidung vom 12. September 2012 suchen: ein Happy End – ein entschiedenes verfassungsrechtliches Nein zu einer marktkonformen Demokratie.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.