Samsa geht die Wände hoch

Bühne Jens Atzorn wider die Schwerkraft: Der isländische Regisseur und ehemalige Leistungsturner Gísli Örn Garđarsson inszeniert Kafkas "Verwandlung" in München

Die Verwandlung des menschlichen Körpers war ein Hauptthema der Surrealisten, seine Formbarkeit ist eines dieser Inszenierung: Wenn der isländische Regisseur und ehemalige Leistungsturner Gísli Örn Garđarsson für das Münchner Residenztheater Kafkas Verwandlung adaptiert, wird die Bühne zur Manege von Jens Atzorn. Der Schauspieler, der mit Gregor Samsa den bekanntesten Handlungsreisenden der deutschen Literaturgeschichte verkörpert, klettert nahezu eineinhalb Stunden spektakulär über Geländer, Schränke und Tische, windet sich um Möbel und hängt von Decken, als hätte er ein Geheimrezept gegen die Schwerkraft gefunden. Dabei zerrt eine Gravitation eigener Art an diesem Charakter: Samsa ist eines Morgens als Ungeziefer erwacht, kann Eltern und Schwester Grete nicht mehr ernähren und wird, seiner Funktion und damit seiner Daseinsberechtigung beraubt, erst ausgestoßen und dann aussortiert.

In schlechten Momenten, die zu Beginn überwiegen, ist dieser Abend eine unentschiedene Mischung aus Tragödie und Komödie. Da fliegt etwa Gregors Stuhl zum Fenster heraus, um der neuen Leerstelle im psychischen Familienbild auch eine physische am Esstisch entgegenzusetzen, und wenn es an der Tür klingelt, folgt ein Mach-du-auf-nein-du-Slapstick, dessen unerbittliche Heiterkeit weder zur Vorlage noch zur Produktion passt.

Denn die weiß, jedenfalls meistens, mit Autor und Thema etwas anzufangen. Garđarssons Bearbeitung mutet zwar beinahe wie eine Nacherzählung an, nimmt aber kluge Setzungen vor. Sind es im Roman mehrere Untermieter, taucht im Stück nur einer auf, und der bleibt ein verhinderter: Fischer, ein Vorgesetzter von Grete, interessiert sich für Zimmer und Mädchen, und trägt seine Korrektheit wie einen stumpfen Gegenstand vor sich her. Arthur Klemt gibt ihn als Prototyp eines ehrgeizigen Schmierlappens, dessen geltungsbedürftiger Behauptungswille mit dem von Gregors Vater wetteifert. Bleibt diese Figur auch eine eindimensionale Behauptung, so doch eine diskussionswürdige, weil sie in ihrer Überzeichnung Imperativ wie Menetekel ist: Wer keinen inneren Kompass besitzt, wird so.

Darstellerisch ragt, weil Atzorns Leistung mehr nach akrobatischen denn schauspielerischen Kategorien bewertet werden muss, Friederike Ott hervor. Ihre Grete, schärfer konturiert als bei Kafka, gewinnt als einzige Rolle Glaubwürdigkeit und Tiefe, weil ihr Regie und Dramaturgie eine Entwicklung zugestehen. Zunächst musische Menschenfreundin, die auf weicher Wellenlänge Wärme verströmt, endet sie als gestiefelte und in hochgeschlossenes Uniformgrau gewandete Rationalitäts-Fetischistin, mehr KZ-Wärterin denn Kaufhausverkäuferin, die erst die Geige und dann den Bruder aufgibt.

Würde nicht zu oft und zu demonstrativ der moralische Zeigefinger bemüht, es wäre trotz latenter Kitschgefahr eine grandiose Produktion. Auch weil das Bühnenbild einen Förderpreis für gesellschaftskritische Symbolik verdient. Oben regiert der Surrealismus, unten der Naturalismus: Börkur Jónsson stellt der Dachkammer des Sohnes die kleinbürgerliche Muffigkeit eines Wohnraums entgegen, der so detailreich ist, als hätte diese Installation der lettische Hyperrealist Alvis Hermanis in Auftrag gegeben, der bisweilen bei der Konkurrenz von den Münchner Kammerspielen inszeniert.

So aber verliert sich der Abend mitunter in den weiten Gefilden eines Textes, der eher auf Absicht als auf Ausdruck setzt.

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