Es gibt diesen neuen Werbespot im dänischen Fernsehen. Der Bürger möge doch bitte ein Auge auf die Entwicklung der eigenen Finanzen haben und die Steuererklärung entsprechend anpassen, heißt es da. Doch selbst wenn das jemand einmal vergessen sollte, so die freundliche Stimme aus dem Off, helfe man gerne mit einem eigenen Vorschlag. Nicht, dass am Ende einer zu viel Steuern zahlt, „herzlichst, Ihr Finanzamt“.
Hierzulande würden die Menschen wohl vor den TV-Geräten sitzen und ungläubig den Kopf schütteln. Der Staat wollte doch noch nie etwas anderes, als den Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen? Es gäbe ein Unbehagen über allzu tiefgreifende staatliche Überwachung und wenn nicht allgemeinen Ärger, so zumindes
o zumindest Skepsis, die in Deutschland zum guten Ton gehört. Allemal, wenn sie gegen den Staat gerichtet ist.In Dänemark aber ist das Echo überwiegend freundlich. Ein gewisser Allan Sørensen twittert, dass er die neue Initiative des dänischen Finanzamts für eine „tolle Serviceleistung“ hält. Und mit dieser Meinung ist er nicht allein. Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup sehen es 88 Prozent der Dänen gern, dass die Behörden regelmäßig an ihrer elektronischen Steuererklärung schrauben. Da macht es auch nichts, wenn dem Finanzamt dabei noch etliche Fehler unterlaufen, wie Verbraucherzentralen und Wirtschaftsprüfer bereits herausfanden.Was zählt, ist die Absicht. Und die ist stets zum Wohl der Bürger. So denken eben die Bürger, nicht nur in Dänemark. So denken sie auch in Norwegen und Schweden. Im Gegensatz zu Deutschland oder gar Ländern wie Italien oder Griechenland, wo traditionell die Auffassung vorherrscht, man werde von einer raffgierigen Kleptokratenkaste regiert, dominiert in Skandinavien ein positives Staatsverständnis. Das Vertrauen in die Institutionen ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Es hat sie durch sozial und wirtschaftlich turbulente Zeiten gebracht und ihnen darüber hinaus das temporäre Aufkommen destruktiver Protestbewegungen, Komiker und Clowns erspart.Nun ist es nicht so, dass dieses Urvertrauen den Skandinaviern einfach in den Genen liegt. Es basiert vielmehr auf Erfahrung. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat, der in Schweden, Norwegen und Dänemark nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs installiert wurde, schuf ein engmaschiges Netz, das niemanden am Boden zurückließ. Er ließ eine breite Mittelschicht entstehen und ermöglichte ihr durch Umverteilung ein in hohem Maße arbeitsunabhängiges Leben.Erstaunliche TransparenzAnfang der siebziger Jahre, auf dem Höhepunkt der sozialen Rundumversorgung, kam Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf als Film ins Fernsehen und in die Kinos. Es war die Visualisierung zu den gesellschaftspolitischen Verhältnissen dieser Zeit, wenn man so will. Die Romanfigur Pippi Langstrumpf, der selbstbestimmte Mensch schlechthin, lebt auch ohne Vater und Mutter glücklich eingebettet in einen fürsorglichen Staat. Immer wenn Pippi Geld braucht, greift sie einfach in ihre mit Golddukaten gefüllt Truhe, die nie leer wird. Die Truhe hat sie von ihrem Vater „Staat“, dem König der Südseeinsel Taka-Tuka-Land. Der versorgt sie zwar, lässt seine Tochter aber ansonsten in Ruhe und vertraut ihr.Der Wohlfahrtsstaat entließ den Menschen sozusagen aus seiner Position auf dem Markt in die private Selbstbestimmung. Anders als im Verständnis der US-Amerikaner bedeutet für die Skandinavier mehr Staat deshalb nicht weniger persönliche Freiheit. Im Gegenteil: Der starke Staat mit seinen sozialen Leistungen bringt eine Individualisierung seiner Bürger erst zur vollen Entfaltung. Realität konnte diese ursprünglich als reine Utopie existierende Form staatlichen Handelns jedoch erst werden durch einen skandinavischen Sozialdemokratismus, der frei war von Korruption, Standesdünkel, aber auch von veralteten Vorstellungen einer konservativ-patriarchalischen Gesellschaft.Bis heute hält das wechselseitige Vertrauen zwischen Staat und Volk in Skandinavien. Es macht Dinge möglich, die in Deutschland nicht denkbar wären. In Schweden etwa gibt es kein Steuergeheimnis. Der „Taxeringskalender“ erscheint jährlich, und jeder Bürger kann dort nachschlagen, welches Einkommen und Vermögen sein Nachbar, Chef, ein Manager oder Politiker tatsächlich versteuert. Auch wegen dieser Transparenz wird eher akzeptiert, dass jeder Steuerzahler seinen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten muss.Schon seit 1766 gilt in Schweden das sogenannte Öffentlichkeitsprinzip, welches besagt, dass staatliches Handeln nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden soll. Jeder Bürger hat das Recht, bei Behörden und Ämtern in alle Akten und Dokumente Einsicht zu nehmen. Amtshandlungen sollen sich nicht im Verborgenen abspielen und sollen, wenn nötig, kritisiert werden können. Ausnahmen gibt es natürlich: Geheimdienstakten sind tabu, ebenso Dokumente, die die Verteidigung des Landes betreffen. Trotzdem ist Offenheit in Schweden die Grundregel, Geheimhaltung die Ausnahme.„Für die allermeisten in den nordischen Ländern sind der Staat und seine Institutionen ein Erfolgsmodell“, sagt Christian Albrekt Larsen, Wohlfahrtsstaatsforscher an der Universität im dänischen Århus. Mangels Beispielen aus der Geschichte täten sich Skandinavier schwer damit, sich den Staat als etwas Böses vorzustellen.Dänische Agenda 2010Doch der skandinavische Wohlfahrtsstaat hat Federn gelassen. In Schweden und Dänemark mehr als in Norwegen, wo Einnahmen aus dem Ölgeschäft staatliche Sozialleistungen, Löhne, aber auch die Lebenshaltungskosten nach wie vor auf sehr hohem Niveau halten. Die schwedische Bevölkerung jedoch musste im Zuge einer Wirtschaftskrise Anfang der neunziger Jahre einen tiefgreifenden Umbau des Sozialstaats hinnehmen, der immer noch nicht abgeschlossen ist. Beispielsweise erhalten beschäftigungslose Schweden zwar auch weiterhin nominell 80 Prozent des letzten Lohns an Arbeitslosengeld. Doch seit eine Bemessungsgrenze von 18.700 Kronen (2200 Euro) eingeführt wurde, müssen die meisten von ihnen mit gut der Hälfte des Lohns auskommen.Auch solche Reformen nehmen die Skandinavier relativ gelassen in Kauf – solange die Entscheidungsträger behutsam dabei vorgehen. Als sich der konservative Politiker Carl Bildt 1991 nach seiner Machtübernahme in Schweden anschickte, den Sozialstaat im Sinne neoliberaler Ideen umzukrempeln, jagten ihn die Schweden vom Hof. Bildt hielt sich nicht einmal eine Amtszeit, ehe er drei Jahre später wieder an die Sozialdemokraten übergeben musste. Dem positiven Staatsverständnis der Schweden tat Bildts Intermezzo jedoch keinen Abbruch.Die Skandinavier und ihr Staat – eine Liaison für die Ewigkeit? Man würde es sich mit Blick auf die überaus erfolgreiche Vergangenheit der nordischen Länder wünschen. Die Realität ist freilich eine andere. Wie schnell das Vertrauen in die Obrigkeit schwindet, zeigt das Beispiel Island, wo den Einwohnern 2009 im Zuge der Finanzkrise der Wohlstand quasi über Nacht unter den Füßen weggebrochen ist. Ein wütender Mob zog vor das Parlament in Reykjavík, zündete Weihnachtsbäume an und warf mit Eiern. Audunn Arnórsson, Leiter der Auslandsredaktion der Tageszeitung Fréttablaðið zeigte sich völlig überrascht. „So etwas ist hier noch nie geschehen.“ Seit den abrupten Umwälzungen dieser Zeit ist das Land nicht mehr das, was es einmal war. Zwar läuft es wirtschaftlich wieder besser, doch der Kooperationsvertrag zwischen Staat und Volk ist aufgekündigt.In Dänemark sind es hingegen langsame, aber stetige Veränderungen, die das positive Staatsverständnis der Bürger zunehmend erschüttern. Seitdem nämlich ausgerechnet eine sozialdemokratische Regierung dabei ist, gemeinsam mit den Konservativen eine dänische Agenda 2010 auf den Weg zu bringen, wachsen Wut und Zweifel. Als sich der skandinavische Sozialdemokratismus am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, in Kopenhagen feiern lassen wollte, flogen dem sozialdemokratischen Oberbürgermeister Frank Jensen am Rednerpult die Tomaten um die Ohren. Und Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt musste ihren Vortrag abbrechen, weil ihre Stimme im Buhen der Massen unterging.
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