A–Z Halbseiden Was wäre die Welt ohne schillernde Figuren? Schauen wir uns doch den Milliardär René Benko an, der einen Teil von Karstadt gekauft hat. Oder Silvio Berlusconi. Oder ...
Adorf, Mario Das Halbseidene ist ihm wie auf den Leib geschneidert, auch wenn er seinen Durchbruch einem veritablen Mord zu verdanken hat. Als Bösewicht Santer erschoss Adorf in der ersten Winnetou-Verfilmung 1963 Nscho-tschi, die Schwester des Apachenhäuptlings. Damit war für den Sohn einer Deutschen und eines Italieners der Weg zur positiven Identifikationsfigur für immer verbaut. Das kantige Gesicht mit seiner von sechs Jahren Preisboxerei zerbeulten Nase tat sein Übriges. Adorf ist in Deutschland der Darsteller schmieriger Unternehmer und Mafiosi. Einen Paradeauftritt hatte er Mitte der Achtziger. In der ersten Folge der Fernsehserie Kir Royal spielte er den rheinischen Großindustriellen Heinrich Haffenloher, der alles dafür tut, um in der Klatschkol
2;r tut, um in der Klatschkolumne des Society-Reporters Baby Schimmerlos aufzutauchen. „Isch scheiß dich so was von zu mit meinem Geld, dass du keine ruhige Minute mehr hast“, sagt Adorf in der Schlüsselszene. Ein TV-Evergreen über Unmoral und Geltungssucht. Mark StöhrBBerlusconi, Silvio Man kann sich fragen, ob Silvio Berlusconi eigentlich in die Aufzählung der Halbseidenen gehört. Ist er nicht – wie Richter mittlerweile höchstinstanzlich festgestellt haben – so bestechlich, dass man zu Recht zweifeln darf: Wo ist denn bei einem wie Berlusconi zumindest noch der Schein des Anstands? Drei Beispiele aus der enorm langen Liste seiner Affären sollten als Begründung reichen: „Bunga Bunga“ mit minderjährigen Mädchen, auf seine Person hin geschneiderte Gesetze und ein Medienimperium, das die öffentliche Meinung beeinflusst. Dennoch: Für Millionen Italiener bleibt Berlusconi trotz allem wählbar. Die Maske des seriösen Politikers hat ihm noch keiner vollständig vom gelifteten Gesicht gerissen. Warum sollten die Medien auch? Entweder sie gehören Berlusconi selbst oder mischen im Spiel des politischen Boulevards kräftig mit. Berlusconi und seine Eskapaden verkaufen sich eben einfach zu gut. Martin SchlakEEtymologie Kleider machen Leute, und halbseidene Kleider machen zwielichtige Leute. Könnte man denken, aber so einfach ist es nicht mit der Herkunft des Wortes. „Halbseiden“ tauchte schon zu Goethes Zeiten auf. Es bezeichnete Gewänder, die jeweils zur Hälfte aus Seide und Baumwolle (➝Viskose) gewebt waren – zunächst wertneutral, später als Kritik an Frauen, die mehr Wert auf Schein als auf Sein legten. Dann brach die Zeit an, in der niemand sich mehr schämen musste, Baumwolle zu tragen, und das Wort verlor seine Stoßrichtung. Anfang des 20. Jahrhunderts, heißt es in Pfeifers Etymologischem Wörterbuch des Deutschen, wurde „halbseiden“ zum Synonym für „zwielichtig“. Wörter sind ja oft gut darin, sich bei Bedarf in neue Gewänder zu kleiden. „Halbseiden“ legte sich also einen doppelten Boden zu, man verwendete es zeitweise sogar als anderes Wort für „homosexuell“, abwertend für „nicht hundertprozentig männlich“. Wer heute aber etwa ➝Berlusconi „halbseiden“ nennt, hat sicher nicht diese Bedeutung im Sinn. mskFFormel 1 Schnelle Autos und Frauen in knappen Kleidern, großes Preisgeld und Champagner-Duschen: Das Formel-1-Geschäft besetzt im Sportuniversum den Dauerparkplatz für Glamour. Öl- und andere Schmierstoffe versprechen hier schnellen Profit für Lebemänner wie Max Mosley und Bernie Ecclestone, Skandale sind da oft mit von der Rennpartie.Auch Willi Weber ist ein halbseidener Unternehmer in Sachen Autosport. Der ehemalige Rennfahrer schlug sich als Gastronom und Rennstallchef durch. Als Sportmanager fuhr er die größten Erfolge ein. So vertrat er die Rennfahrbrüder Michael und Ralf Schumacher, seine Sternstunde. Michael machte ihn reich und berühmt. Bis heute zählen die Rennpiloten Timo Scheider und Jutta Kleinschmidt sowie das Model Naomi Campbell zu seinen Kunden. 2007 wurde er wegen Anstiftung zur Untreue angeklagt – er soll Gläubiger um mehr als eine Million Euro geprellt haben. Er räumte die Schuld ein. Es folgte 2010 ein Urteil gegen Weber wegen Insolvenzverschleppung. In der Formal 1 mischt er heute nicht mehr mit – zuletzt beklagte er, sie sei ihm zu gefühllos und zu sehr aufs Geld fixiert. Tobias PrüwerFußball Sein Zuhause ist das Zwielicht, doch eines muss man Fifa-Chef Sepp Blatter lassen: Er wurde nie erwischt und rechtskräftig verurteilt. Der Weltfußballverband ist bekanntermaßen ein Paradies für Mauscheleien und Manipulationen. Erwiesen ist mittlerweile, dass Blatters Amtsvorgänger João Havelange Millionen an Bestechungsgeldern für die Vergabe von Fernsehrechten an eine Vermarktungsagentur erhalten hat. Der Fifa war die Schmiererei ganz offensichtlich bekannt und damit auch ihrem damaligen Generalsekretär Blatter. Dessen nassforsche Sicht der Dinge verblüffte selbst abgebrühte Beobachter: Solche Zuwendungen seien zu jener Zeit legal gewesen, man habe sie sogar von der Steuer absetzen können. Wenn es dem 77-jährigen Sepp Blatter um die Macht geht, kennt seine Perfidie keine Grenzen. Er hat sich ein System aus Seilschaften und Abhängigkeitsverhältnissen geschaffen, in dessen Mitte er als Sonnenkönig thront. Wer dieser Grauzone gefährlich werden könnte? Darauf gab Blatter vor einiger Zeit eine verräterische Antwort: „Aufhalten kann mich nur Gott.“ Eilig fügte er noch hinzu: „Oder der Fifa-Kongress.“ MSKKarstadt-Deal Eine illustre Runde hat René Benko da um sich versammelt: den Porsche-Chef, einen griechischen Milliardär und einen ehemaligen Bundeskanzler Österreichs. Enge Freunde seien sie, erzählt Benko. Und Geschäftspartner natürlich. Unter ihnen strahlt der 35-jährige Milliardär als „einer der erfolgreichsten Unternehmer“, wie er sich in aller Bescheidenheit selbst nennt. Benko wurde kürzlich einer größeren Öffentlichkeit bekannt, weil er die Luxus- und Sportkaufhäuser der Karstadtkette kaufte. Heuschrecke und Hütchenspieler nennt ihn die Gewerkschaft Verdi. Er spiele mit der Angst der Beschäftigten um die Arbeitsplätze, um niedrigere Löhne zu zahlen.Keine Frage, Investoren haben ein Image-Problem. Auch wegen Typen wie Benko. Das Wiener Oberlandesgericht hat ihn wegen halbseidener Methoden vergangenen November verurteilt. „Ein Musterbeispiel von Korruption“ sei Benkos Geschäftsgebahren, befand die Richterin. Sorgen machen muss er sich deswegen nicht. Kaufhausketten, die dringend Geld brauchen, bekommen dieses auch in Zukunft wohl von Milliardären. Und so groß ist deren Runde nicht. Timo StukenbergKlöße Es gibt, kaum zu glauben, auch zwielichtige Kloßnaturen: Kartoffelklöße, die verhältnismäßig wenig Stärke enthalten, werden aufgrund ihres Äußeren halbseiden genannt. Der Anteil an gekochten Kartoffeln ist bei ihnen sehr hoch und reicht von halb roh und halb gekocht bis zu ausschließlich gekochter Masse. Insbesondere in Thüringen sind die Halbseidenen zu Hause.Es gibt eine Herkunftssage, nach welcher ein heißer Feger diese Klöße über die Menschen brachte. Frau Holle persönlich soll den Meiningern das Rezept geschenkt haben. Holle war hier auch – anders als bei den Grimms – kein altes Hutzelweibchen, sondern eine strahlend schöne Frau, der kein Mann gewachsen war. Gern kam sie in den Nächten nach Weihnachten über die Kerle. Man kann sie wohl mit Fug und Recht als zwielichtigen Charakter bezeichnen. TPLLiteraturklischee Nicht nur in Groschenromanen, auch in etwas besseren Krimis ist immer wieder von einem „halbseidenen Typen“ zu lesen, der irgendwo herumlungert – am besten im Zwielicht. In Hausmaestro, einem im Opermilieu spielenden Krimi von Rupert Schöttle, ist zum Beispiel über einen „halbseidenen Kollegen“ zu lesen: „Jederzeit vom Zeugungswillen beseelt, der sich hinter einem vorgeblich Frauen verstehenden Charme verbirgt, gelingt es diesen Kerlen noch immer, so manches arglose Mädchen ...“Noch häufiger als in literarischen Werken scheint das Attribut aber in Kritiken aufzutauchen. Da gibt es neben den halbseidenen Typen auch noch „halbseidene Nachtclubs“, „Bankgeschäfte“ und „Vergangenheiten“. Eine „halbseidene Frau Gemahlin“ hier, oder auch „halbseidene Kreise“ dort. Warum sich die Mühe machen und nach Abwechslung bei den Beschreibungen streben, wenn mit einem Wort doch alles gesagt ist? TPVVersicherungsvertreter Unter allen Berufen genießen Versicherungsvertreter das geringste Ansehen. Nur elf Prozent attestieren ihnen ein positives Image. Der miese Ruf speist sich aus verschiedenen Quellen. Viele Kunden haben schon einmal Scherereien gehabt. Nach einem Blitzschlag etwa festgestellt, dass der Haken für die Elementarversicherung fehlt, wo eigene Knauserigkeit hineinspielt.Die Hauptschuld hat sich die Branche aber selbst zuzuschreiben. Merkwürdige Geschäftspraktiken wie Provisionsvorschüsse für AWD-Berater trübten das Vertrauen, Budapester Sexpartys der Hamburg-Mannheimer-Spitzenverkäufer ebenso. Den Vogel schoss Mehmet Göker, Gründer der MEG AG, mit seiner Vorliebe für große Auftritte ab. Durch Treueeide und Abhängigkeiten schuf er quasi-feudale Strukturen. Wegen Steuerhinterziehung wurde Göker, der heute in der Türkei lebt, zu 720.000 Euro verurteilt. MEG ging 2009 insolvent. Die Privatschulden belaufen sich auf 21 Millionen, Verfahren wegen Untreue sind noch anhängig. TPViskose Auch in der Mode gilt: Nicht alles, was glänzt, ist Seide. Halbseide ist leicht daran zu erkennen, dass der Stoff nur auf einer Seite schillert, denn sie besteht zu 50 Prozent aus anderen Fasern, zumeist aus Baumwolle. Verbreiteter als Halbseide ist die günstigere Viskose, die auch Kunstseide genannt wird. Die allerdings hat einen Nachteil, wie Irmgard Keun 1932 in ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen verriet, dessen Protagonistin Doris in der Halbwelt von Berlin mit halbseidenen Typen ihr Glück suchte. Doris weiß: „Man sollte nie Kunstseide tragen mit einem Mann, die zerknautscht dann so schnell, und wie sieht man aus dann nach sieben reellen Küssen und Gegenküssen?“Daneben liegt übrigens, wer beim Stichwort Viskose mit Loriot summt: „Mei-ne Schwester heißt Po-ly-ester“. Viskose ist zwar chemisch aufbereitet, ihr Grundstoff aber ist die Naturfaser Zellulose. Alexandras „Mein Freund der Baum“ wäre also der passendere Song. Christine KäppelerZZar Der russische Boxer Alexander Powetkin ist der „Zar“. So nennt er sich zumindest selbst. Für die Fotografen und Sponsoren umgibt er sich mit allen Insignien des halbseidenen Boxgeschäfts: Pelzmäntel, weiße Tiger, Luxuskarossen und natürlich Frauen. Doch hinter den Klischees steckt dem Vernehmen nach ein akribischer Arbeiter – und russischer Nationalist. Denn der 34-jährige Europameister, Weltmeister und Olympiasieger, der in mittlerweile 26 Kämpfen unbesiegt ist und noch nie k.o. ging, geschweige denn angezählt wurde, hat sich seinen Kampfnamen nicht wegen des äußeren Pomps ausgesucht. Er hat sich das so genannte Swaroger Quadrat auf den Körper tätowieren lassen, das sehr populär ist bei der russischen Rechten. Auf seiner Hand prangt der Schriftzug „Für Russland“. Für ihn verkörpert der Zarismus den verblichenen großrussischen Stolz.Nicht verwunderlich, dass Powetkin ein Günstling Putins ist. Der russische Präsident wird wohl auch direkt am Ring sitzen, wenn Powetkin am 5. Oktober in Moskau gegen Wladimir Klitschko antritt. Der „Zar“ gegen „Dr. Steelhammer“, ein wohl halbseidenes Vergnügen. MS
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.