Als Präsident Clinton auf dem Höhepunkt der Lewinski-Affäre eine Regierungserklärung abzugeben hatte, wurde ihm respektvoller Beifall vom ganzen Kongress gespendet, weil Freund und Feind seine Leistung als Amtsinhaber und schon allein die Würde seines Amtes anerkannten. Auch die US-amerikanische Bevölkerung ist nicht überfordert, zwischen Clintons Persönlichkeit und seiner politischen Leistung scharf zu unterscheiden. Das zeigen noch jüngste Meinungsumfragen: die Leistung erhält Spitzennoten, die Persönlichkeit wird für mies gehalten. Ist das ein Vorbild dafür, wie die deutsche Öffentlichkeit mit Altkanzler Kohl umgehen sollte? Um die deutsche Vereinigung hat er sich wirklich verdient gemacht. So wird es in den Geschichtsbüchern stehen. Dass er die innere Einheit nicht voranzubringen wusste, ändert wenig daran.
Argumente der Art, die Vereinigung sei eigentlich in Leipzig auf der Straße erreicht worden und Kohl habe nur Glück gehabt, damals zufällig Kanzler gewesen zu sein, sind bestenfalls politisch naiv. Wahr ist, dass Gerhard Schröder Glück hat, heute Kanzler zu sein und mit einer Public-relations-Reise durch die neuen Länder sein Desinteresse am Aufbau Ost überspielen zu können. Wie er den Arbeitern des Holzmann-Konzerns kurz vor einem Parteitag beisprang, auf dem er SPD-Vorsitzender werden wollte, so lässt er sich jetzt im Osten kurz vor den Einheitsfeiern bejubeln.
Hätte Kohl die Stirn gehabt, am 27. September in der Bundestagsdebatte zur deutschen Einheit zu reden, woran ihn niemand hindern konnte, es hätte gerade dem Regierungslager gut angestanden, ihm höflich zu applaudieren. Der Altkanzler will aber nicht. Er scheint ein Gefühl für die Peinlichkeit der Situation zu haben. Bleibt seine Einladung zur Rede auf einer CDU-Feier durch Angela Merkel. Ein Teil der Schröder-Presse zerreißt sich nun auch hierüber das Maul. Die CDU-Vorsitzende habe Führungsschwäche bewiesen, sei vor Kohl zurückgewichen. Und wenn sie nur zu unterscheiden versucht wie im Fall Clinton die amerikanische Öffentlichkeit? Es ist gar nicht wünschenswert, dass alle deutschen Vorsitzenden so aalglatt führen und leichtfüßig feiern wie Schröder.
Die Amerikaner folgen einer anderen politischen Religion als die Deutschen. Jenseits des Atlantiks geht man seit Jahrhunderten davon aus, dass Machtmenschen eine zweifelhafte Spezies sind, die durch »checks und balances« gut bewacht werden muss. Man ist daher zwar streng, aber nicht weltanschaulich verunsichert, wenn Präsidenten und andere Repräsentanten bei Sittenlosigkeit oder Rechtsbrüchen erwischt werden. Sie sollen etwas leisten und werden dennoch nicht blind geliebt. Von dieser Puritaner-Perspektive ist die Perspektive der deutschen C-Partei vielleicht nicht weit entfernt.
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