Sex selbst

Film Soziologisch erzählt Tatjana Turanskyj in „Top Girl oder la déformation professionnelle“, wie Arbeit und Alleinerziehung in der Ich-AG funktionieren
Ausgabe 03/2015

Vielleicht ist man schon einmal an einem Haus namens L40 vorbeigelaufen, wenn man in Berlin wohnt: Es ist ein kantiges Gebäude mit schwarzer Fassade, das seit 2010 die Ecke Linien- und Rosa-Luxemburg-Straße schmückt. In Top- Girl oder la déformation professionnelle wird der markante Bau („Ein Haus. Aus Beton. Dunkel und Ernst, aber auch voller Leichtigkeit und Zuversicht. Einen Beitrag zur klassischen Moderne, einladend und abweisend zugleich“, schreibt die Vermarktungswebseite) zum Set. Klare Linien, große Fenster, schicke Möbel als Homebase für den Escortservice, der Sex als Dienstleistung verkauft. Der Blick geht auf die Torstraße, wir befinden uns in Berlin-Mitte. Die Chefin (Mira Partecke) ist groß und schlank, sie trägt Lederjacke, und die Haare sind nach hinten gegelt. Ihre Agentur leitet sie nach den neuesten Regeln der Unternehmensführung: Kundenbindung ist wichtig, wir müssen mal wieder ein Special Offer machen.

Vaginalplastikvortrag

Eine der Angestellten, die im lichten L40-Ambiente auf Kunden warten, ist Helena (Julia Hummer). Sie ist 29 Jahre alt, hat eine Tochter, alleinerziehend. Ihr Alltag ist anstrengend und eingezwängt zwischen Schauspielcasting und Kinderbetreuung, Sexarbeit und Wohnungputzen. Helena funktioniert, sie ist fleißig, strengt sich an. Auf hohen Schuhen stapft sie über verschneite Gehwege, von Termin zu Termin. Dazu kommt die übliche Arbeit am Selbst: falsche Wimpern, Smokey Eyes und regelmäßig Sit-ups.

Top Girl von Tatjana Turanskyj ist der zweite Teil einer Trilogie zum Thema Frauen und Arbeit. Wie im ersten Film Eine flexible Frau von 2010 geht es um die Sichtbarmachung prekärer Jobs in Zeiten totaler Dienstleistungskultur und um die Frage, was Feminismus heute noch kann, will, soll. Alles scheint wahnsinnig kompliziert und unübersichtlich geworden, zahllos sind die Widersprüche und Sackgassen. In einer Szene besucht Helena einen Vortrag über Vaginalplastik, in dem eine elegante Ärztin (Nina Kronjäger) die selbstbestimmte Schönheitsoperation als feministischen Akt verkauft. „Mein Körper gehört mir“, sagt sie und verspricht den jungen Liebhaber.

Wie Frauen zu Komplizinnen der eigenen Unterdrückung werden und sich mehr oder weniger freiwillig rabiaten Regimes der Selbstkontrolle und Selbstoptimierung unterwerfen – darum geht es in Top Girl. Helena hat weder Ehemann noch Zuhälter, sie arbeitet autonom und ist trotzdem nicht frei: gefangen im Hamsterrad ökonomischer Zwänge, das perfekte neoliberale Subjekt, die vollkommene Ich-AG.

Zurück zu L40. Wenn die Kamera durch die breite Fensterfront nach draußen blickt, dann zeigt sich ganz rechts im Bild das massige Grau der Berliner Volksbühne. Top Girl ist nah am Theater gebaut: Helenas Arbeit kreist um Performance und Rollenspiel, ihre Kostüme sind fantastisch, aufwendige Lack-und-Leder-Outfits zwischen Catwoman und Aztekenkönigin. Schauspielerinnen wie Mira Partecke (die die Hauptrolle in Eine flexible Frau spielte) hat Regisseurin Turanskyj direkt von der Volksbühne importiert und sich auch sonst von den Spiel- und Sprechweisen inspirieren lassen, die dort in den vergangenen Jahren entwickelt wurden. Wenn Helena und ihre Kolleginnen sich in der Sexagentur in einer Reihe aufstellen und frontal in die Kamera sprechen („Du verwechselst mich mit irgendetwas in dir“), dann ist der René-Pollesch-Touch unübersehbar. Und die Themen von Top Girl – die prekären Arbeitsverhältnisse, das blöde Selbst – sind sowieso sehr polleschhafte.

Doch nicht nur die Volksbühne hat in Top Girl ihre Spuren hinterlassen, sondern auch das Kino. Etwa: wie Jean-Luc Godard in seinen Filmen Ende der 60er Jahre Kapitalismus und Konsumismus am Beispiel der Prostitution durchdenkt. Oder: die undramatische Geduld und Muße, mit der Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975) auf weibliche Arbeit schaut.

Diese thematischen Referenzen markieren aber auch ein Problem von Top Girl. Wo Godard und Akerman für Radikalität und Stringenz auch in der filmischen Form stehen, bleibt Top Girl zu nah am Soziologieseminar. Weil die Übersetzung der Themen in Bilder und Töne, in eine Geschichte und eine Form schwächelt, wirkt vieles thetisch und grobschlächtig durchkonstruiert.

Aber Julia Hummer ist großartig. Und wir haben das dunkle L40-Gebäude von innen gesehen. Was nicht schaden kann, wenn man wissen will, wie die Gegenwart aussieht.

Top Girl oder la déformation professionnelle Tatjana Turanskyj D 2014, 94 Minuten

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