Reiste man von Süden nach Berlin, kamen irgendwann die Kiefernwälder, die zeigten, nun ist man in Preußen. Dann durchfuhr der Zug einen weitläufigen Provinzbahnhof. Viele Gleise, mehrere Bahnsteige. Am Fenster vorbei glitt ein Ortsname: Wünsdorf. Und gleich daneben auf Russisch: Вюнсдорф. – Es waren solche Eindrücke im Vorüberfahren, die im Bewusstsein hielten, man lebte in einem besiegten Land.
Wünsdorf war mehr russisch als deutsch. Hier, wo vormals eine kaiserliche Militär-Schießschule und eine Militär-Turnanstalt sich befanden, später die Wehrmacht Bunker baute, residierte das Oberkommando der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Heerscharen von Soldaten und Offizi
und Offizieren der Roten Armee waren in Wünsdorf stationiert. Männer, Frauen, Kinder lebten hinter den bewachten Toren. Es gab russische Schulen, Einkaufsläden, Kino, ein Theater, eine Brotfabrik, und kleine Mädchen nahmen Ballettunterricht. Bis 1994 fuhr vom Bahnhof Wünsdorf täglich ein Zug nach Moskau. Seit dem Abmarsch der Truppen steht die Militärstadt leer. Sie ist nach wie vor Sperrgebiet. Darin verfallen die Bauten.Sabine von Breunig ist eine junge Fotografin. Sie hat den Abriss des Palasts der Republik dokumentiert, sie ist mit ihrer Kamera im Stasi-Knast in Berlin-Hohenschönhausen und unterwegs in Afrika bei Ziegen und Menschen gewesen, sie hat für die Brigitte fotografiert. Auch wo ich nicht haltmachen, nicht aussteigen mochte, in Wünsdorf, ist sie herumgegeistert und hat Fotos gemacht. Es ist daraus jetzt ein dickes Foto-Buch geworden, es heißt Geisterstadt.Welche Geister meint sie?Ich spreche von den Meinen.In der ersten Nacht lernten wir alles. Wir waren in einem Zug gefahren, eine Nacht durch, noch in Zivil. Der Zug fuhr Umwege. Vielleicht um den regulären Fahrplan nicht zu stören, vielleicht um dem Feind das Ausspähen zu erschweren. Wir kamen morgens an. Stolperten kopflos durch eine uns unbekannte Stadt. Wurden aufs Kasernengelände geführt, durch ein Aufnahmeprozedere geschleust.Dahinter die FunkstationIrgendwann ging es, nun schon in Uniform, in die Unterkunft. Ich weiß noch, als ich über der Eingangstür „Einheit Kantreiter“ las, dachte ich, das ist bestimmt ein verdienter Antifaschist, nach dem diese Nachrichtenkompanie sich benannt hat. Es war aber nur der Oberleutnant Kantreiter, ein blasser Hänfling, der hier kommandierte. Wir waren acht Leute und kamen alle auf Zimmer Nr. 5. Die schon länger in der Einheit dienten, beglotzten uns.Dann begann die Show. Auf dem langen gefliesten Flur wurden wir aufgestellt. Jeder mit seinem braunen wackeligen Hocker. Wir lernten, wie man vorm Zubettgehen seine Klamotten akkurat faltet und auf dem Hocker ablegt. Wir lernten, wie ein Spind einzuräumen ist. Wir lernten den Trick, dass dabei in die Unterhemden eine Zeitung eingefaltet wird, damit es eine schöne knitterfreie Kante gibt. Dieses einmal so herrlich gefaltete Hemd blieb im Spind liegen für die nächsten 18 Monate, das zog man niemals an, man hätte ein Kunstwerk zerstört. Wir übten das Strammstehen, die Augen links, Augen rechts und wie man einen Vorgesetzten korrekt anspricht.Wir bändelten unsere Schulterstücke an Jacke und Hemd und erfuhren, dass auch sie glatt und rein zu sein haben. Wir empfingen unsere Kalaschnikow aus der Waffenkammer, bauten sie auseinander und übten das Waffenreinigen. Wem ein Teil runterfiel, was leicht geschah und höllisch laut klirrte, der machte 20 Liegestütze. Uns fiel sehr schnell kein Teil mehr herunter. Inzwischen war Mitternacht vorbei und noch immer kein Ende abzusehen in dieser ersten Nacht, in der wir alles lernten, was ein Soldat wissen muss.Es gab auf dem Flur eine Tür, die war mit einem Gitter verschließbar. Dahinter befand sich eine Funkstation, aber das wussten wir noch nicht. Das Gitter stand später immer offen, heute war es verschlossen. Hinter dem Gitter erschien nun ein Soldat, nur im Hemd. Er brüllte, er wolle raus, habe Durst und Hunger. Er wurde angeschrien und geschlagen, dann wurde ihm eine Scheibe knochenhartes Brot gebracht und aus einem Kochgeschirr Wasser ins Gesicht geschüttet. Gestresst, übermüdet und überfordert, wie wir waren, glaubten wir, was wir sahen. Ich weiß noch, ich dachte, hier kommst du lebend nicht wieder raus. Später war uns das peinlich, und wir taten, als hätten wir natürlich gewusst, dass das ein sehr lustiger Spaß gewesen war.Wir arrangierten uns. Wir philosophierten auf unserer Stube Nr. 5 darüber, dass nur, wer durch diese erste Nacht gegangen war, der echte, der wahre Soldat sei. Wem erst nach und nach alles beigebracht wurde, der konnte es nie begreifen. Wie zum Beweis klirrten draußen auf dem Flur die MP-Teile, die den Neuen zu Boden fielen, weil bei ihnen keine Zucht und Ordnung herrschte. So sprachen wir Sklaven, die sich ihr Schicksal schönredeten.Der rote SternJeder suchte sich fortan seine kleinen Freiräume, seine winzigen Fluchten. Es galt, die Zeit abzusitzen. Diese Zeit, da wir 18 und 19 Jahre alt waren. Die eine besonders schöne Zeit im Leben sein soll, wie wir von ferne hörten. Und eigentlich ist uns auch nichts Schlimmes passiert. Wir mussten in keinen Krieg ziehen und hatten am Ende noch alle zehn Finger an unseren Händen. Trotzdem strichen wir Jungs aus der Stube Nr. 5 diese Zeit aus unserem Leben, komplett. Nur in unsere Träume, dummerweise, da kehrten sie gelegentlich wieder, noch viele Jahre, die Geister.Durch die Räume, die Sabine von Breunig in Wünsdorf fotografiert hat, gehen diese Geister auch. Es sind Räume des Drills, der Unterdrückung, der Übergriffe, der Angst. Wenn die kaiserlichen Säle sich einst prunkvoll gaben, es ändert nichts, zwischen diesen Wänden hat der Militarismus gehaust. Putz blättert. Fenster stehen offen oder sind mit Holz vernagelt. Der rote Stern ist noch sichtbar. Es sind die Übermalungen zu sehen, eine Macht überschreibt die frühere, besiegte. – Die Bühnenbildnerin Anna Viebrock baut gern solche Szenerien.Es ist gut, dass es dieses Fotobuch gibt. Es lädt, wie jedes Fotobuch, zu einer Reise ein. Ich aber möchte an diesem Ort nicht gewesen sein.
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