Bühne Am 9. Juni 2004 explodierte in der Keupstraße eine Nagelbombe des NSU. Im Stück „Die Lücke“ lässt Nuran David Calis jetzt drei der Opfer auftreten
Drei Schauspieler in betont elegantem Outfit stehen drei Laien in Alltagskleidung gegenüber. Ayfer Şentürk Demir, Ismet Büyük und Kutlu Yurtseven waren unter den 22 Personen, die am 9. Juni 2004 bei dem Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße verletzt wurden. Nun stehen sie auf der Probebühne in Köln-Mülheim und lassen sich von den Schauspielern mit sarkastischen Fragen traktieren: Ob der Anschlag bei dem ethnischen Wirrwarr auf der Keupstraße ein Wunder ist? Warum ist der Islam, anders als das Christentum, so unübersichtlich? Und was, überhaupt, ist mit den Kurden? Şentürk Demir, Büyük und Yurtseven mühen sich umständlich, den Unterschied zwischen Sunniten, Schiiten, Aleviten zu erklär
8;ren, und sprechen dann von den Bewohnern der Keupstraße als einer großen Familie. „Das ist doch total naiv!“, höhnen die Schauspieler. Und dann verschärft sich der Ton. „Ihr erwartet doch, dass die Barbaren von der Keupstraße ihre Konflikte mit der Waffe lösen“, keift Kutlu Yurtseven zurück. Und dann flippt die Schauspielerin Annika Schilling wirklich aus und stellt das ganze Szenensetting infrage.Nuran David Calis probt in Köln sein Theaterstück Die Lücke über den Anschlag des NSU und ist dabei die Ruhe selbst. Einfühlsam erklärt er Annika Schilling und den anderen, dass es ihm um den Austausch zwischen den Parteien geht und dass Aggression in dieser Szene der falsche Weg ist. Prompt läuft die Szene im zweiten Durchgang vollkommen anders ab. Fast etwas zu diskursiv abgeklärt.SystemabsturzNach der Probe treffe ich Nuran David Calis im Hochgarten des Schauspiels Köln in der rechtsrheinischen Schanzenstraße. Während der Sanierung des Stammhauses am innerstädtischen Offenbachplatz hat die Bühne hier eine Ausweichspielstätte bezogen. Gleich um die Ecke liegt die Keupstraße. Jahrelang nährten Polizei und Staatsanwaltschaft den Verdacht, die Ursache für den Anschlag sei in mafiösen, ethnischen oder religiösen Streitigkeiten zu suchen, und schlossen einen rechtsradikalen Hintergrund aus. Die Opfer wurden so von den deutschen Behörden zu Tätern gemacht. Der tiefsitzende Vertrauensverlust, der daraus erwachsen ist, treibt Nuran David Calis seither um: „Als 2011 bekannt wurde, dass der NSU für den Anschlag verantwortlich ist, war ich erschüttert, dass ein solcher Systemabsturz über alle Institutionen hinweg möglich war, die unsere Zivilgesellschaft am Laufen halten.“ Der Titel Die Lücke spielt auf diesen Vertrauensverlust zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft an. Angesichts der Dimension der Entfremdung klingt Die Lücke fast zu harmlos.Nuran David Calis kennt die Schwierigkeiten aus dem Effeff, die Rechercheprojekte fürs Theater mit sich bringen. Bekannt wurde er mit Stücken wie Urbanstories (2005) und Homestories (2006), die den Träumen, der Wut, Sehnsucht und Heimatlosigkeit von Jugendlichen nachspürten, deren Großeltern nach Deutschland eingewandert waren. Seine eigene Herkunft erleichterte ihm den Zugang. Calis’ Vater war Armenier, seine Mutter Jüdin, beide stammen aus der Türkei und sind nach Deutschland emigriert. Dass gemeinsame Herkunft nicht alles ist, musste Calis allerdings 2008 erfahren, als er in Köln mit einem Projekt zur ersten Migrantengeneration scheiterte, weil er vor verschlossenen Türen stand. Insofern, sagt er, sei er zunächst skeptisch gewesen, ob er Zugang zu Opfern des Anschlags oder selbst zu anderen Anwohnern der Keupstraße erhalten würde. Doch die Aufdeckung der Terrorzelle NSU, stellte Calis fest, hatte die Bewohner regelrecht erlöst: „Das war wie eine zweite Geburt für sie.“Natürlich haben Calis und sein Dramaturg Thomas Laue den NSU-Untersuchungsausschuss verfolgt, den Prozess in München besucht, mit dem Nebenkläger Mehmet Daimagüler, aber auch mit Polizisten und Staatsanwälten gesprochen oder die Berichterstattung der Medien aufgearbeitet. Im Zentrum der Theaterstücks sollen jedoch mit Ayfer Şentürk Demir, Ismet Büyük und Kutlu Yurtseven Leidtragende des Anschlags in der Keupstraße stehen.Alles echt!Der Laienauftrieb hat sich, ein bisschen böse gesagt, in den vergangenen Jahren auf deutschen Bühnen fest etabliert. Klar geht es dabei um Partizipation. Aber auch um die Gier des Publikums nach Authentizität. Ohne den Aufkleber „Alles echt!“ läuft kaum noch etwas. Dass die Bühnenarbeit mit Betroffenen immer auch einen gewissen Voyeurismus bedient und allzu oft unkritisch affirmativ ist, darüber wird großzügig hinweggesehen. Warum sollen jetzt also auch noch Opfer und Anwohner der Keupstraße auf die Bühne? „Manchmal muss man als Theatermacher zu einem falschen Mittel greifen, um für die Sache das Richtige zu erreichen“, rechtfertigt Calis seine Entscheidung.Wenn er davon spricht, wie die Opfer von Medien, Polizei und Staatsanwaltschaft behandelt wurden, schimmert auch der Wunsch nach einer Wiedergutmachung durch. Endlich denen, die mundtot gemacht wurden, eine Stimme geben. Nuran David Calis verhehlt aber auch seine eigenen Bedenken nicht. Deshalb konfrontiert er die drei Opfer des Anschlags mit drei Schauspielern, die als Stellvertreter der Mehrheitsgesellschaft fungieren. Er möchte mit dieser Konfrontation nicht nur blinde Flecken in der gegenseitigen Wahrnehmung aufdecken, sondern das Theater selbst „in Schwierigkeiten bringen“. Was er damit meint, wird anschaulicher, wenn er sagt: „Beide Parteien, also Laien und Künstler, arbeiten sich an der Nahtstelle zwischen Fiktion und Realität ab.“ Das Theater muss sich die Frage gefallen lassen, inwiefern es die Härte der Realität überhaupt abbilden kann. Gleichzeitig verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Fiktion auch in den Akten der Untersuchungsbehörden. Da fand sich zum Beispiel ein Vermerk, dass „diese Art der Aggression nur aus dem Kulturraum der Südländer zu erwarten“ sei.Nuran David Calis, der Theaterregisseur, Autor und Filmemacher, hat solche Zuschreibungen am eigenen Leib als eine Art positiven Rassismus erfahren. Wie ein Mantra wiederholen sich in Berichten über den 38-Jährigen dieselben biografischen Stichworte: Asyl, Bielefeld-Baumheide, Türsteher, der erste Theaterbesuch: Kabale und Liebe, Studium der Theaterregie, Regisseur. Nie unterschlagen wird dabei das Gegensatzpaar „Türsteher“ und „Schiller“, weil es einer Politik als Beweis dient, die Integration nicht primär als politische oder ökonomische, sondern vor allem als kulturelle Frage verstanden wissen will.Ein bisschen PathosEr weiß um die Klischees, hat mit ihnen auch gespielt – entgehen konnte er ihnen eh nicht, auch nicht am Theater. Lange Jahre haben Intendanten ihn für Migrantenthemen gebucht, so entstand etwa die Baumheide-Trilogie in Hamburg, München und Essen. Erst allmählich wurden ihm auch Stücke aus dem Kanon von Goldoni über Schiller bis Wedekind angeboten. Dass er viele dieser Dramen mit Adolenszenzkonflikten, Migrantengeschichten oder Gangplots überschrieb, ist aber auch Teil der Geschichte. Inzwischen kann er sich seine Stücke aussuchen, und darauf ist er stolz. Dass er über die NSU-Attentate und die Leidtragenden ein Stück machen würde, war ihm schnell klar, noch bevor das Schauspiel Köln ihm im Herbst 2012 das Angebot machte.Gespräche mit Nuran David Calis kommen ohne die üblichen Diskursblasen aus, sind allerdings nie frei von Pathos und Idealismus: Die Lücke soll helfen, „das Andersartige auszuhalten“ oder die Grundwerte des Miteinander von Mehr- und Minderheitsgesellschaft „neu zu definieren“. Hehre Worte im ansonsten ziemlich abgeklärten Kulturbetrieb, die sich aber mit radikalen Positionen verbinden. Dazu gehört auch, dass Ismet Büyük sich weigert, Deutsch zu sprechen. Auf der Bühne eines deutschen Stadttheaters – und im Alltag. „Ich habe kein Problem damit, wenn jemand sich nicht integrieren will“, sagt Calis, „ich habe ein Problem damit, wenn wir die Grundwerte des Miteinander infrage stellen.“ Parallelgesellschaften auszuhalten, auch das gehört für Nuran David Calis zur Basis einer multiethnischen, demokratischen Gesellschaft. Dazu braucht es in der Tat viel Idealismus.
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