KEIN ZUFLUCHTSORT. NIRGENDWO Die Studie des Holocaustforschers Michael M. Marrus über die Geschichte der europäischen Flüchtlinge im 20. Jahrhundert ist von ungeahnter Aktualität
Mahnmale für Verfolgte und Vertriebene, für die aus dem Land Gejagten und die mit dem Tod Bedrohten müssten im Grunde in jedem Winkel Europas zu finden sein. Denn vor kaum mehr als 50 Jahren spielte sich auf diesem Kontinent eines der größten Flüchtlingsdramen dieses Jahrhunderts ab. Eine demographische Studie aus dem Jahr 1948 gibt die Zahl der durch das NS- Regime und den Zweiten Weltkrieg entwurzelten Menschen mit mehr als 30 Millionen an. »Niemals zuvor hat die Geschichte einen derart universellen Umbruch erlebt, bei der Menschen so aus ihrer Umgebung und ihrem Alltag herausgerissen wurden«, schrieb ein zeitgenössischer Beobachter.
Mit dem vierzehn Jahre nach dem Erscheinen der Erstausgabe nun endlich auch in deutscher Sprache vorliegenden Bu
egenden Buch von Michael M. Marrus Die Unerwünschten - Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert hat der Verlag Schwarze Risse/Rote Strasse/Libertäre Assoziation ein Standardwerk über die Geschichte der europäischen Flüchtlinge publiziert. Es bedarf besonderer Anerkennung, dass der kleine Verlag die Übersetzungskosten nicht scheute, um einer breiten LeserInnenschaft die Möglicheit zu bieten, sich mit den historischen Wurzeln der Flüchtlingsfrage vertraut zu machen. Michael M. Marrus, der sich im Rahmen der internationalen Holocaustforschung einen Namen gemacht hat, - hier ist insbesondere eine gemeinsam mit Robert O. Paxton verfasste Studie zur Judenverfolgung unter dem Vichy-Regime zu nennen - geht es in seinem Buch nicht etwa darum, eine Theorie der Flüchtlingspolitik oder eine Definition des Flüchtlingsbegriffs aus historischer Perpektive zu entwickeln. Diesen Ansatz verfolgte beispielsweise der französische Soziologe Gérard Noiriel in einer 1994 in deutscher Sprache erschienen Studie über die Geschichte des Asylrechts. Marrus gibt vielmehr einen umfassenden Überblick über die Sozialgeschichte der verschiedenen europäischen Flüchtlingsbewegungen in diesem Jahrhundert.Dieses Thema hat im deutschsprachigen Raum bisher kaum Beachtung gefunden. Zwei Gründe scheinen dafür verantwortlich zu sein: Zum einen ist die Geschichtswissenschaft traditionell stark nationalstaatlich orientierten Theorien verhaftet. Deren Handwerkszeug weist - ganz unbenommen seiner Bedeutung in anderen Zusammenhängen - methodische und analytische Grenzen auf, wenn es beispielsweise um das Phänomen der »Staatenlosigkeit« geht. Zum anderen handelt es sich bei der Flüchtlingsfrage um ein Kapitel der Geschichte, das in der politischen Kultur Deutschlands allenfalls als Randnotiz auftaucht. Nationalistische Traditionen, die die Staatsbürgerschaft allein aus dem Blutrecht ableiten und in der NS-Rassepolitik ihren Höhepunkt fanden, sind auch heute noch in den Geistes- und Sozialwissenschaften virulent.Obwohl faktisch immer wieder Hunderttausende von Vertreibung betroffen sind, bewegen sich Flüchtlinge wie keine andere unterdrückte und stigmatisierte Gruppe nicht nur wissenschaftlich in einem Niemandsland. Sie leben auf dem Terrain einer terra incognita, herauskatapultiert aus dem gesellschaftlichen Sozialverband, ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten entledigt, herabgewürdigt zu Unerwünschten, die kein Land auf dieser Erde bereitwillig bei sich aufnimmt. Dadurch, dass ihnen ein Staat ihre Rechte - ganz gleich ob auf bürokratischem Wege oder durch gewaltsamen Terror - aberkannt hat, haben sie offensichtlich auch international den Anspruch verwirkt, überhaupt noch wie Menschen behandelt zu werden.Marrus stellt diese in vielerlei Hinsicht vergessenen Menschen ins Zentrum des historischen Geschehens. Dabei orientiert er sich nicht an dem engen, von der UNO vorgegebenen Flüchtlingsbegriff, an nationalstaatlichen Grenzen und unterschiedlichen Flucht ursachen. Kriterien der Auswahl sind vielmehr Ausmaß und Dauer der Vertreibung sowie ihre Tragweite - sowohl unter menschlichen Aspekten als auch im Hinblick auf zwischenstaatliche Beziehungen. Schwerpunkt der Studie bildet die Zeit von 1933 bis 1948; im Mittelpunkt steht der Zusammenhang von Antisemitismus, Völkermord und restriktiver Flüchtlingspolitik.Marrus' Ergebnisse verblüffen: Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts erscheint wie eine Abfolge grausamer Vertreibungskreuzzüge, die verbrecherische Staaten mit chauvinistischem Gebaren unter nationalistischer Flagge gegen die jeweils zu Minderheiten erklärten Bevölkerungsgruppen geführt haben. Richtet man den Blick von heute zurück auf das Jahrtausend, so muss man dem Autor beipflichten: Historische Parallelen können allenfalls zur mörderischen Politik des Kolonialismus gezogen werden.Flüchtlingsbewegungen als Massenphänomen und als Folge genozidaler Prozesse markieren Zäsuren in der Geschichte, die die Begleiterscheinungen der Modernisierung - Menschenverachtung, Rassismus und Antisemitismus bis hin zum staatlich organisierten Völkermord - an die Oberfläche des historischen Geschehens treten lassen. Auch die Flüchtlingsfrage der Gegenwart muss in diesem Sinne interpretiert werden. Maßnahmen der Flüchtlingsabwehr sind Spiegelfechterei. Sie verweisen darauf, wie über den Ausschluß und die Abwertung der so genannten »Anderen« die eigene Identität konstruiert wird. Die Bürger der Wohlstandsinseln verteidigen ihre Sicherheiten, die für die Aufrechterhaltung der eigenen Interessen funktional sind, angesichts der Brüchigkeit der Welt jedoch absurd erscheinen müssen.Leider gelingt es Marrus nicht, eine Sprache zu finden, in der die Opfer der Terror- und Vertreibungspolitik, die Flüchtlinge selbst, als Subjekte sichtbar werden. Individuelle Schicksale verschwinden hinter Repatriierungsvorkehrungen, Kolonialplänen, Datenerhebungen, Aufenthaltsbestätigungen, Bevölkerungstransfers und Umsiedlungsmaßnahmen. Einzige Ausnahme bildet die organisierte illegale Immigration von Jüdinnen und Juden nach Palästina bis zur Staatsgründung 1948. Die Entscheidung zur Flucht, meist unter Zwang getroffen, beinhaltet jedoch immer ein Moment der Aktivität und der Initiative. Flucht ist in den meisten Fällen die einzig mögliche Form der Selbstbehauptung.Flüchtlinge werden paradoxerweise, wie Hannah Arendt schon in ihrem Buch Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft feststellte, trotz ihres massenhaften Erscheinens als eine Anomalie in einer ansonsten scheinbar ganz normalen Welt angesehen. Marrus belegt mit unzähligen Beispielen, dass diesbezüglich nicht nur ein Paradigmenwechsel in den human sciences, sondern auch politisches Umdenken dringend erforderlich sind. Zuletzt haben uns die Kriege auf dem Balkan einprägsam vor Augen geführt, dass es den politisch Verantwortlichen nicht um humane Schutzgewährung geht, sondern um die Abwehr und die »heimatnahe« Unterbringung der Betroffenen in ethnischen Enklaven. In der öffentlichen Debatte reduzierte man die Flüchtlingsfrage auf ein rein humanitäres Problem. Die Weichen für diese neue flüchtlingspolitische Linie wurden bereits mit dem Ende des Kalten Krieges gestellt, als die reichen Länder Westeuropas angesichts der Öffnung der Grenzen im Osten begannen, das Asylrecht faktisch abzuschaffen. Dies ist der Zeitpunkt, an dem Marrus historische Studie endet. Das letzte Kapitel der Geschichte muss noch geschrieben werden.Michael M. Marrus, Die Unerwünschten - Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, übersetzt aus dem Englischen von Gero Deckert, Verlag Schwarze Risse/Rote Strasse/Verlag Libertäre Assoziation, Berlin-Göttingen-Hamburg 1999, 440 S., 48,- DM
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