Dergleichen ist selten: Vier geistesverwandte Jubiläumshelden im selben Jahr. Es erfolgt – der Leser erhebe sich von seinem Platze! – deren Vorstellung in der Reihenfolge der Geburtstage: Geboren am 5. 10. 1713: Denis Diderot – der Enzyklopädistenheros, Welt-Neu-Durchdenker und Großmeister des Spielerischen. Dann, am 24. 11. 1713 geboren, der Roman-Revolutionierer, Großhumorist, Freud-Vorgänger und Prä-Postmoderne-Erfinder Laurence Sterne, Verfasser von The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Gefolgt von dem, der (mehr als Goethe) der deutschen Literatur Welt und Wortmusik schenkte: Christoph Martin Wieland, gestorben am 20. 1. 1813, also vor grob 200 Jahren. Und schließlich der, der alles, was die eben Genannten schrieben,
Väter der Marotte
Geistesblitz Wir erleben gerade ein Jubiläumsjahr der europäischen Moderne: Erheben wir uns für Diderot, Sterne, Wieland und Jean Paul
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Ausgabe 47/2013
ießlich der, der alles, was die eben Genannten schrieben, aufsog, in sein ziemlich einmaliges Zettelkästenuniversum kondensierte und wieder in seine wortmeergewaltigen Romane ausfließen ließ: Jean Paul, am 21. 3. 1763 geboren, also vor 250 Jahren. Zusammen 1.050 Jahre Jubiläum und die Geburt der europäischen intellektuellen Moderne. Der Leser verbeuge sich und darf sich setzen.Sterne schenkt der Welt eine völlig neue Idee dessen, was ein Roman sein und was er leisten kann: grandios unterhaltsam dargebrachte Philosophie, Weltweisheit im Clownskostüm, rasiermesserscharf beobachtete menschliche Abgründe im Gewand burlesker Komik. Diderots Gabe an uns: die Kunst der Eleganz, der spielerischen und dennoch auf die Wurzel gehenden Durchdringung – und vor allem natürlich sein mächtiges Unternehmen, die alle Werte testende und notfalls umwertende Großanstrengung, die Enzyklopädie. Ein Mammutwerk, dessen Subskriptionsprospekt 1750 und dessen 32., letzter Nachtragsband, der zweite Teil des Registers, 1781 erschien. Wielands Großwerk ist kein Buch, sondern die Zeitschrift Der Teutsche Merkur. Und schließlich Jean Paul, der Großmeister der Zettelkästen und Wortuniversen.Freilich war es von diesen vier Laurence Sterne, der die anderen am stärksten beeindruckte. Ihm soll der Großteil dieses Artikels gelten. Wieland und Jean Paul kannte er nicht. Dafür verehrten diese beiden ihn. Bei Diderot liegt der Fall anders: Wenn auch der Großteil seiner außerhalb der Enzyklopädie veröffentlichten Schriften posthum erschien – sein mit gesellschaftspolitischen Spitzen und kritischen Einsprengseln durchsetzter Roman Die indiskreten Kleinode war 1748 gedruckt worden, ein vergnügliches satirisch-erotisches Stück, das aber manchmal arg repetitiv ist und wahrhaft kein Meisterwerk. Auch zwei Stücke wurden gezeigt, bürgerliche Schauspiele. Sterne las Diderots Manuskript von Der natürliche Sohn, als er in Paris zu Besuch war, war aber nicht sonderlich beeindruckt. „Zu viel Sentiment“, „die Reden zu lang“ „nicht nach meinem Geschmack“, schrieb er seinem Freund, dem berühmten Schauspieler David Garrick.Die Liebe zur FreiheitAndersherum war es freilich, nachdem sich Diderot und Sterne (vermutlich im Salon des Radikal-Materialisten Baron d’Holbach) persönlich kennengelernt hatten und Sterne über seinen englischen Verleger Diderot die bis dahin erschienenen Bände des Tristram Shandy hatte zustellen lassen: „Ich lese gerade das verrückteste, weiseste und lustigste aller Bücher“, schrieb der Franzose entzückt an seine Vertraute Sophie Volland, wurde Fan und subskribierte spätere sternsche Werke. 1778 dann schrieb er Jacques, der Fatalist, einen sternianisch-digessiven Roman voll Witz und Bizarrerie über einen Diener und seine Herrn, den er zu Lebzeiten nie veröffentlichte.Er erschien posthum erst 1792, entdeckt und übersetzt, auf Deutsch, von Goethe. Freilich: Die wahre Größe Diderots lag in der Erfindung, Organisation, Abfassung, Durchsetzung, Verteidigung, Rettung und Wiederbelebung der Enzyklopädie, dieses Monuments der Unvoreingenommenheit, Subjektivität und Neugier, das eigentlich einmal ganz klein angefangen hatte. Eigentlich nämlich wollte ein französischer Verleger nur ein englisches Lexikon übersetzen lassen. Nach dem Ausscheiden mehrerer Bearbeiter war irgendwann Diderot der Redakteur – und beschloss, es nicht nur umzuschreiben und zu aktualisieren, sondern seine Diskussionspartner aus den freidenkerischen Salons der intellektuell überschäumenden französischen Hauptstadt darin schreiben zu lassen: D’Holbach, Helvetius, d’Alembert, Voltaire, Rousseau, Diderot selbst – über 150 Beiträge erschienen darin. Und zwar nicht objektiv oder pseudoobjektiv, sondern subjektiv und ihre ‚modernen‘ Meinungen vertretend.Mehrmals wurde das Projekt unterbrochen, verboten, gehemmt. Bände konnten lange gar nicht oder nur mit falschem Druckort erscheinen. Aus Angst vor dem Verbot zensierte der Verleger Teile hinter dem Rücken der Herausgeber. Kirche und Staat waren höchst alarmiert. Und wenn auch die Einträge der Enzyklopädie in aller Regel zahmer sind als Aussagen von deren Verfassern in ihren separaten Buchveröffentlichungen – hier waren das Wissen der Zeit mit den freidenkerischen Meinungen der Zeit vereint, und Sätze wie folgender legten Feuer ans Fundament der konstitutionellen Monarchie. „Kein Mensch hat von der Natur das Recht erhalten, den anderen zu gebieten“, schreibt Diderot im Eintrag ,Autorität, politische‘.Wie ein DirigentEin Programm, das Laurence Sterne in seinem Großroman Tristram Shandy literarisch umsetzt, er erfindet eine ganz neue Art zu schreiben. Das beginnt im Kleinen mit seinem Satzzeichenstakkato, seinem ausgeklügelten Gebrauch von Punkten, Doppelpunkten, langen, sehr langen und kurzen Gedankenstrichen, Asterisken, bildlichen Symbolen, krakeligen Zeichnungen und Leerstellen für nicht geschriebene, aber durch den Kontext angedeutete Wörter. Sterne bestimmt damit Tempo und Rhythmus des Lesevorgangs wie ein Dirigent das Spiel seines Orchesters, lässt aber dem Leser trotzdem eigenen Freiraum. Damit deutet sich schon auf der Mikroebene an, was auf der Makroebene des gesamten Textes den Autor Sterne berühmt machte: die Befreiung des Leser. Wichtig dabei Sternes Verfahren der „progressiven Digression“, das der fortschreitenden Abschweifung, der Reflexion im Text über den Text, der Einmischung des Autors in den Erzählvorgang, der Fiktionalisierung der Fiktion, des Spiels im Spiel.Bei Sterne geht es nicht um Verwicklungen und Abenteuer der Helden: Über das Leben des Protagonisten erfährt man kaum etwas, ja es braucht bis zum Ende des dritten Bandes, bis Tristram überhaupt geboren wird.Auch danach kommt man über seine Jugend nicht hinaus, sondern schweift unzählige Male in die entlegensten Felder skurriler Theorien ab, um schließlich nach einer Frankreichfahrt bei den unfreiwilligen amourösen Abenteuern des impotenten Onkels Toby zu enden. Um die im Titel angekündigten ‚Ansichten‘ geht es dafür umso mehr: etwa um die des kopflosen Kopfmenschen Walter Shandy, um die des aufs Festungswesen fixierten Onkels Toby. Viel mehr als in der Handlung spielt der Roman in den Köpfen der Beteiligten – zu denen auch der Leser selbst zu zählen ist, der immer wieder zur Stellungnahme aufgefordert wird.Humoristische UniversaldemokratieSein Spiel treibt Sterne auch mit der Dimension der Zeit, oft übergeht er sprunghaft Monate und Jahre, um dann beinahe stillzustehen. Und im 29. Kapitel des dritten Buches lässt er den vom Nasenbruch seines Sohnes Tristram niedergedrückten Walter Shandy in erstarrter Pose aufs Bett sinken – und erst 70 Seiten später aus genau dieser Pose wieder erwachen.Sternes Mikrobeobachtungen, die detailgenau beschriebenen Körperhaltungen und Gebärden, tragen zur Nivellierung der Hierarchie von Groß und Klein, von Haupt- und Nebensache, von Ernst und Unernst bei. Sterne macht das Alltägliche im Roman heimisch und zeigt gleichzeitig, wie abenteuerlich es eigentlich ist. Die Ereignisse und Ansichten spiegeln sich im Roman und im Hirn des Lesers, der selbst auch in diese fiktionale humoristische Universaldemokratie einbezogen ist. Denn, wie Sterne an einer Stelle, die fürs Ganze steht, meint: „Den aufrichtigsten Respekt zollt man dem Verstande des Lesers, wenn man in dieser Hinsicht mit ihm freundschaftlich teilt, und seiner Imagination, so gut wie der eigenen, etwas zu tun gibt ... Die Reih’ ist itzt an ihm“.Nicht zuletzt vielleicht dieser antihierarchischen Einstellung wegen hat das Buch bei den freiheitsdurstigen deutschen Dichtern und Denkern einen so enormen Erfolg gehabt. Einen Erfolg, der in dem Urteil Friedrich Nietzsches über Sterne gipfelt: „Der freieste Schriftsteller aller Zeiten!“, aber bei Christoph Martin Wieland anfängt: „Wo ist der Mann von Verstand und Geschmack, dessen Seele einen Sinn für die Launen des Genies, für Witz und Ironie, für attisches und brittisches, für Rabelaissches und (was feiner und pikanter ist als alle übrigen vier Arten) für Yoriksches Salz hat; (...) wo ist, sag ich, ein solcher Mann, in dessen Händen Bodens Tristram nicht schon wäre, der nicht lieber alle seine übrigen Bücher, und seinen Mantel und Kragen im Nothfall dazu, verkaufen wollte, um dies in seiner Art einzige, dies mit allen seines Verfassers Wunderlichkeiten und Unarten dennoch unschätzbare Buch (...) anzuschaffen, von Stund an zu seinem Leibbuch zu machen und solange darin zu lesen, bis alle Seiten davon so abgegriffen und abgenutzt sind, daß er sich -- zum größten Vergnügen des Verlegers -- ein neues anschaffen muß?“So jubelte er 1774, fünf Jahre nach Abschluss der englischen Ausgabe des Tristram und einige Monate nachdem Johann Christian Bodes deutsche Übersetzung erschienen war. Und zwar in seiner Zeitschrift Der Teutsche Merkur – dem bis heute vergessensten Großereignis der deutschen Literatur. In ihm schrieben nicht nur die spannendsten deutschen Autoren (von Herder, Goethe, Schiller bis Wezel), man findet dort auch Ausflüge in unbekanntes geografisches Terrain, Forschungsreisen in unbekannte literarische Territorien, etwa jüdische Dichtung, Stimmen der Völker, die erste deutsche Lukrez-Übersetzung oder die bis heute einzige ordentliche Galiani-Biografie. Dazu Artikel über Wissenschaften, Kultur und Politik aus aller Welt, über Ballonfahrten, Bergstürze, Instrumentenbau, die Geschichte der Schiffsreisen, über Mesmer und seinen Magnetismus. Berühmt auch politische Beiträge wie die von Wieland selbst zur Französischen Revolution. Ein riesiger, bis heute kaum gehobener Schatz.Der SchwammBleibt noch der, der alles, was die drei bisher Genannten hatten, vereinte: Jean Paul. Wie ein Schwamm sog er Bücher und Wissen in sich und seine Notizhefte auf (die ersten legte er schon als Schüler an). 40.000 Seiten Nachlass liegen in der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin, Auszüge daraus zeigt gerade die wirklich ganz famose Ausstellung Jean Paul – Dintenuniversum im Liebermann-Haus am Brandenburger Tor.Aus ihnen speisen sich seine am verehrten Sterne geschulten Romane, die alles in den Schatten stellten, was Deutschland kannte: „Das begreif ich nicht, der ist noch über Goethe, das ist ganz was Neues“, schrieb etwa Karl Philipp Moritz nach Erscheinen von Die unsichtbaren Loge. Wie ein Wesen von einem fremden Stern war der aus bettelarmen Verhältnissen stammende Jean Paul in die deutsche Literaturwelt gefahren, „wie aus dem Mond gefallen“ kam er Schiller vor, Lichtenberg meinte: „Eine solche Verbindung an Witz, Phantasie und Empfindung möchte wohl auch das in der Schriftstellerwelt sein, was dir große Konjunktion dort oben am Planetenhimmel ist.“Jean Paul gießt zusammen, was seine Vorgänger boten, gibt dazu die unendliche Musikalität seiner Sprache und verbindet es mit dem „hellen Bewußtsein des Ich“ – dem elementaren Schrecken vor der unabwendbaren Vernichtung des Endlichen. Ein kosmisches Sehnen nach Versöhnung der schmerzvoll-zerrissenen irdischen Existenz mit dem ewigen Schönen gibt seinen Romanen – bei allen formalen Tollereien – echte Größe.Seiner grausam grundierten ‚Idyllen‘ etwa wie dem Schulmeisterlein Wutz im Auental (einem Teil seines großen Erfolgsromans Die Unsichtbare Loge). Von Wutzens Bibliothek – „wie hätte der [bettelarme] Mensch sich eine kaufen können?“ – erzählt Jean Paul, „dass er sie sich selber schrieb“. Und so ist Wutzens wie Jean Pauls „Vollglück in der Beschränkung“ natürlich eins der Kompensation.Wer sich die ‚wirkliche‘ Welt nicht leisten kann, schafft sich eine innere – und Jean Paul schafft ganze Universen: Elemente der Komik, des Schauerromans, der Empfindsamkeit, klassischer Größe und anarchischer Lächerlichkeit. Traumvisionen, Idyllen und Grotesken webt Jean Paul zu unendlichen, immer wieder in sich selbst spiegelnden Romankosmen von selten erreichter poetischer Sprachsuggestion. „Der deutschen Sprache die Zunge lösen“ notierte er als Programm in seine Notathefte und setzte es um. Die Liste seiner zum Weinen schönen Wortneuschöpfungen und artistischen Vokabelkombinationen könnte ganze Wörterbücher füllen.Kauzige FigurenNicht umsonst borgte sich Paul Celan einen Begriff wie ‚Sprachgitter‘ aus dem Werke des von ihm so geliebten Jean Paul, nicht umsonst sind Wortschöpfungen wie ‚Weltschmerz‘ und ‚Ehehälfte‘ in die Alltagssprache übergegangen. Seine Romane, man hört es schon an den Titeln (Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel; Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz: mit fortgehenden Noten nebst einer Beichte des Teufels bei einem Staatsmann) sind oft seltsam verschachtelte Romanräume mit bizarren Ideen und kauzigen Figuren, meist bürgerlichen übrigens, denn Jean Paul war bei aller Versponnenheit und Innerlichkeit ein scharfer Kritiker feudalistischer Willkür und überzeugter Republikaner.Wer ihn genau liest, hört so manche spitzen politischen Töne aus seinem Werk heraus. Was ihn mit dem von ihm als „Welthumoristen“ so verehrten Laurence Sterne eint? Beide stehen immer aufs Neue staunend vor dem Rätsel Mensch und versuchen schreibend sich zu vergewissern, warum man ist, wie man ist, ja, was man eigentlich ist. Das Rätsel des Ich ist Grundthema von Jean Pauls Büchern. Sie sind voller sich selbst fremder Gestalten, voller Identitätswechsel, Verkleidungen, Doppelgänger und Zwillinge.Kein Wunder, dass Jean Paul in seiner Berliner Zeit mit dem Ich-Philosophen Fichte stundenlang disputierend heftig aneinandergeriet – bis heute ist Jean Paul übrigens als Philosoph seltsam unbeachtet und schmählich unterschätzt. Die Begrenztheit des rätselhaften Ich löst er in seinen Schriften in der Sehnsucht und dem Streben nach dem Unbegrenzten auf. Seine Sprachbewegungen sind Griffe in die Unendlichkeit. Dichtung ist für Jean Paul „Spiegel des Alls“, womit er als einziger unserer Jubilare in die Romantik weist, ohne das Scheidewasser diderotscher Vernunft zu verlieren.Was für ein Jahr also, in dem vier so verwandte, aber auch verschiedene Autoren (und – Sie haben es gemerkt – persönliche Helden) noch einmal geehrt werden können. Nach ihnen war die schreibende Welt eine andere. Die Tür zur Moderne war aufgestoßen.
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